Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

AM MUSCHELPRIEL
"Ach, dahinter fließt ja ein Priel!"
"Ja, der Priel hat all die Millionen von Muschelschalen hier zusammengespült. Es sind meistens tote Schalen der Herzmuschel. Schau her, wie schön gerieft sie sind. Die glatten da sind Plattmuscheln, und die großen dort mit dem Ohr sind Schalen der Sandklaffmuschel."
"Das ist ja eine tolle Muschelmenge. Jetzt wird mir auch klar, wie man früher oft ins Watt hinausfuhr, um sein ganzes Boot mit diesem Muschelschill vollzuladen. Man brachte ihn nach Hause und brannte ihn dann in besonderen Kalkbrennöfen der Marsch, um ihn zum Bauen oder Häuserweißen oder wohl auch als Futter- und Düngekalk zu benutzen."
"Es ist aber keine Wonne, auf diesen scharfen Schalen barfuß herumzulaufen. Ich habe mich eben schon ganz hübsch geschnitten", stöhnte Inge.
"Macht nichts", sagte Jan, "solange du im Watt bist, eitert die Wunde nicht. Das kommt von dem Schwefeleisen, das durch die Verwesung organischer Reste im Schlick entsteht." "Deine Theorien sind prächtig. Es könnte sein, daß sie stimmen!" "Du bist ja heute angriffslustig, Heio. Freue dich lieber über diesen herrlichen Prielverlauf! Wie er hin- und herpendelt, wie er hier einen Prallhang schafft und seine Ufer unterwäscht, dort aber einen sanften Gleithang neu anspült. Da kommt ein Seitenpriel und hat richtig ein Delta als breiten Sandkegel in ihn hineingeschwemmt!" erwiderte Jan.
"Du, Heio, so, stelle ich mir vor, müssen die großen Flüsse in wilden Erdteilen vom Flugzeug aussehen - diese Flüsse, die noch nicht kanalisiert und geradegelegt sind wie in unserem langweiligen und zivilisierten Europa!"
"Hast recht, Inge, mein Goldkind! Und weil das Watt so herrlich wild ist, lieb ich es auch so. Wer weiß, ob es überhaupt noch solche Ströme gibt wie die, von denen du träumst. Vielleicht nur hier im Watt noch!"
Sie stapften in dem flachen Wasser des Priels herum. "Wie schön warm das an den Beinen ist", flüsterte Inge ganz selig. "Das Seewasser schäumt auch ganz anders als Süßwasser; das Licht blinkt anders darin, und die Wellen scheinen mir anders geformt zu sein. Ja, ich finde, es fühlt sich anders an."
"Tut es auch, Inge", entgegnete Heio leise. Sie standen still in der heißen Sonne und atmeten den starken Salzduft ein, der nirgends so kräftig ist wie auf dem Watt. Diese riesigen Flächen sind bei Ebbe durch die starke Verdunstung förmlich mit Salzdunst überlagert.
Rings um sie war das Wispern und Flüstern des Watts, das ihnen in der großen Stille und Einsamkeit verriet, daß brodelndes Leben sie umgab. Wie sehr irren diejenigen, die von der toten grauen Wüste des Watts sprechen. Jan zog am Prielrand den Fuß aus dem Schlick und zählte in dem daran haftenden Schlamm allein zwanzig der kleinen kaum zwei Zentimeter langen Schlickkrebschen.
Als Inge den ersten Ekel überwunden hatte, gewann sie den possierlichen Tieren Interesse ab. Sie schaute zu, wie sie im weichen bräunlichen Schlick dahinkrochen und dabei lange verschnörkelte Kriechspuren wie fremdartige Schriftzüge zurückließen.
An dieser Stelle bestand das Watt fast ganz aus den Kotperlchen solcher Krebse und war weithin von einem dichten Netzgeflecht ihrer Kriechspuren überzogen. Hier und da kamen sie aus kleinen Löchern herausgekrochen und streckten tastend ihre beiden langen fußartigen Fühler nach allen Seiten. Wenn sie sie spreizten, hörte man das leise klickende Geräusch zerplatzender Wasserbläschen. Ringsherum, überall hörte man es, dieses Wattgeräusch, das die Stille des Watts erfüllt und das der Dichter Storm besingt als "des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton".
Inge fingerte in dem weichen und warmen Schlick herum. "Du, hier hab ich was Besonderes. Uii, ein ganz langer Wurm ist das, ganz fleischfarben, und auf dem Rücken hat er einen roten Strich. An den Seiten Beine wie bei einem Tausendfuß. Schau doch her, ich hab ihn hier in der kleine Pfütze. Ach, schwimmen kann er auch! Er schlängelt sich ganz schnell durchs Wasser. Ist das solch Wattenwurm, der die Sandhäufchen macht?"
Heio freute sich über das Interesse und die Begeisterung Inges. "Nein, mein Deem! Der Sandwurm sieht wie ein dicker Regenwurm aus, nur daß er rötliche Kiemenbüschel an der Seite hat. Der lebt auch ziemlich tief im Sandboden und nicht in solch butterweichem Schlick wie hier. Dies ist ein vielborstiger Raubwurm. Der rote Strich ist das Herz. Schau, man sieht, wie es pulsiert! Die Beine aber sind Borstenplatten, die als Ruder dienen. Der Wurm hat den schönen Namen Nereïs."
Inge lachte. "Und da sagt man, Zoologen seien nüchterne Wissenschaftler. So viel poetisches Empfinden hätte ich ihnen nie zugetraut!"
Heio wurde ernst. Er beugte sich hinunter und zeigte auf das Tierchen, das in dem klaren Wasser des Pfützchens in Regenbogenfarben schillerte. "Schau, alle wirklich bedeutenden Zoologen waren erfüllt von der Schönheit des Lebendigen und ergriffen von dem Wunder der Schöpfung. Wie der Künstler sahen sie das alles oft gerade in den unscheinbarsten Dingen, an denen die große Masse achtlos vorüberging. Als ich einmal eine Fischdampferfahrt unweit Helgolands mitmachte, holten wir mit dem Grundnetz ein faustgroßes stacheliges Tier herauf, wie eine scheußliche, riesige, dicke, pelzig behaarte Raupe. Die Fischer nannten es Seemaus. Es gehörte in die weitere Verwandtschaft unserer Nerei's und hatte den wissenschaftlichen Namen - Aphrodite. Warum dieser Name? Weil den sorgfältigen Betrachter unter den dunklen Stacheln ein in herrlichen Farben irisierendes Borstenband entzückt, das dem raschen Blick entgeht. Und das ist für den Forscher so schön gewesen, daß er darüber die ganze andere plumpe Mißgestalt des Tieres nicht sah. Ich möchte mitunter, daß wir immer und daß alle Menschen eine solche Art des Schauens hätten. Ich glaube, es gäbe nicht Zank und Streit und nicht Haß und Verfolgung auf der Erde."
Inge schaute auf und sah ihm tief in die Augen: "Du hast recht, mein Junge! Und deshalb habe ich euch beide auch so gern, denn ihr habt beide etwas davon. Ich habe neulich mal darüber nachgedacht!"
Heio wurde unsicher. Er hatte diese Wendung des Gespräches nicht erwartet. Inge war mitunter so sprunghaft, aber er mußte es sich eingestehen, daß sie doch in einem tieferen Sinne immer bei der Sache blieb. War es deshalb, weil sie Weib war? In seine Gedanken klang die trockene Stimme Jans: "Sind dir diese Ideen bei der Fahrt mit dem Österreicher gekommen?"
"Scheusal!" rief Inge und spritzte mit beiden Händen das Wasser des Priels auf Jan. Alle lachten, und Inge fügte rot werdend hinzu: "Aber recht hast du!" So war denn der Friede wiederhergestellt, und sie wateten den Priel abwärts. Sein Boden wurde sandiger. Sie kamen an der weißleuchtenden Muschelbank vorüber. Als sie einen Augenblick stehen blieben, machte Inge eine ungeduldige Bewegung.
"Andauernd schwimmt irgend etwas gegen meine Beine. Sind das Fische? Da wühlt sich eins in den Sand!"
"Ja, ich merke das auch schon eine geraume Zeit. Jedesmal, wenn man stehen bleibt!"
Jan bückte sich und griff im flachen Wasser herum. Plötzlich hatte er etwas in der hohlen Hand. Die beiden anderen traten herzu. Ein graues Krebschen schwebte wie ein kleines Fischchen darin, mit langen Fühlern.
"Ach, das sind also alles Garnelen."
"Aber die sind doch rötlich!"
"Das kommt vom Kochen." Inzwischen hatte auch Inge versucht, die Tiere zu greifen, aber es glückte nicht. Erst als sie versuchte, sie gleichsam vorsichtig zu schöpfen, hatte sie Erfolg.
"Bei mir sind die ganz anders, viel kleiner. Sie sehen auch sonst nicht so aus und sind ganz glasklar durchsichtig!" Heio nannte diese Wesen ,Mysis'. Inge meinte, daß sie dieselben Tierchen in einem flachen Kolk bei Brunsbüttel gesehen habe. "Das ist schon möglich", sagte Heio, "sie gehen weit ins Brackwasser hinein!"
Als sie weiter wateten, schwankte Jan plötzlich. "Was mir eben gegen die Beine schwamm, war aber keine Krabbe. Das war etwas, was sich direkt unter meinen Fuß wühlen wollte. Es war ein größerer Fisch." Auf Inges Lachen wiederholte er: "Bestimmt war es einer!"
Der Priel hatte sich hier etwas erweitert und war tiefer geworden. Heio schlug vor, sie wollten gemeinsam diese tiefe Stelle abgehen.
"Ihr müßt fest auftreten!" sagte er, "das sind Schollen oder Butt, wie wir hier an der Küste sagen. Die liegen platt eingewühlt auf dem Grund und suchen gern das trübe Wasser auf, wenn sie verfolgt werden. Sie flüchten sich also in die Sand- oder Schlammwolke, die wir mit unsern Schritten im Priel aufwühlen, und dabei kommt es tatsächlich vor, daß sie sich unter unsere Füße bohren. Dann muß man fest zutreten und geschwind den Fisch greifen und auf das trockne Watt werfen. - Wenn wir Glück haben, können wir uns durch solches Buttpetten, wie es die Fischerjungs nennen, eine schöne Mittagsmahlzeit zusammenfangen."
"Ahoi, wir gehen unter die Fischer!"
Und nun gingen sie hin und her in dem knietiefen Wasser. Jan war der erste, dem es gelang, einen zappelnden Butt von doppelter Handgröße auf das Watt zu werfen. Auch den zweiten fing er. Dann glückte es Heio. Nur Inge hatte Pech. Sie erschrak jedesmal so, daß der Fisch wieder entkommen konnte. Aber zum Schluß brachte auch sie einen Butt als Beute ein und war maßlos stolz darauf. Aber bei der Greiferei waren sie tüchtig naß geworden. Jan und Inge hatten nur einen Badeanzug an. Heio zog sein ärmelloses, naß und schmutzig gewordenes Sporthemd aus und knüpfte die Fische da hinein. Dann liefen sie über das Watt zu ihren gerade noch in der Ferne erkennbaren Booten. Sonne und Wind trockneten sie rasch, und die Wanderung hatte sie hungrig gemacht. Sie bauten Windschirm und Primuskocher auf dem Sand auf. Jan schlachtete und reinigte die Fische. Heio kochte Pellkartoffeln. Inge briet die Schollen, und dann nahmen sie, in ihren Booten sitzend, feierlich ihr selbstgefangenes Mahl ein.
Um das Geschirr zu spülen, gingen sie zu einem Priel hinüber, der sich nicht allzufern von ihren Booten hinzog. Etwas weiter mündete er in einen größeren und hatte eine lange Sandzunge in ihn vorgetrieben. Dahinter hatte das Prielwasser Hunderte von Herzmuscheln zusammengeschwemmt.
"Aber das sind ja keine toten Schalen. Die sind alle zweiklappig und voll und geschlossen", stellte Jan fest.
"Dann muß sie unser Seitenpriel eben erst ausgespült haben", meinte Heio. "Die Muscheln leben nämlich unter der Wattoberfläche." Er bückte sich und nahm eine Handvoll der kleinen Tiere. "Paßt mal auf!" sagte er und warf sie auf das Watt. Sie beugten sich hinunter. Aus den Muscheln kam ein Fuß wie ein kleiner Finger hervor, und mit diesem Fuß schnellte sich eine nach der ändern mit richtigen kleinen Sprüngen durch das Watt. Viele der Muscheln ließen dabei eine zentimeterbreite Kriechspur zurück.
"Springende Muscheln! Welch unbekanntes Leben birgt doch das Watt!" rief Inge. "Solche Kriechspuren sah ich vorhin auch bei unsern Booten, aber da wurden sie von Schnecken hervorgerufen." "Ja, das waren Strandschnecken. Habt ihr den festen Deckel gesehen, den sie auf ihrem Fuß tragen? Damit können sie ihr Gehäuse verschließen, wenn es ihnen zu trocken wird."
Sie machten sich nun ans Geschirrspülen und gingen dann zu ihren Booten zurück. Als sie noch ein Stück am Prielrand entlanggingen, schossen bald hier bald da Wasserstrahlen wie ein Springbrunnen meterhoch aus dem Watt. Diese Strahlen kamen aus kleinen Löchern, wie sie überall im Wattboden zu sehen waren. "Woher kommt das?" fragte Inge.
"Wir können ja mal nachgraben", meinte Heio und begann, mit seinem Metallteller den Sand wegzuschaufeln, als wieder direkt vor seinem Fuß solch ein Strahl aufgesprungen war.
Dicht unter der bräunlichen Oberfläche wurde das Watt blauschwarz.
"Das kommt vom Schwefeleisen, das sich durch die Verwesung organischer Reste unter Luftabschluß bildet", erklärte Heio. "An der Oberfläche geht das Eisen andere rostfarbenen Verbindungen ein."
Man sah in dem festen dunklen Sand eine Röhre, die abwärts führte. Als er etwa 40 cm tief gegraben hatte, traf er auf eine schwere Muschel, wie zwei aneinandergelegte Hände groß, an der ein fingerlanger rüsselartiger Fortsatz hing.
"Das ist ja eine Sandklaffmuschel!" rief Jan, "wie wir sie auf der Schillbank da drüben an dem Priel gefunden hatten. Bloß ist diese stellenweise so blauschwarz."
"Das kommt auch von dem Schwefeleisen. Wenn sie herausgespült werden, werden sie bräunlich, bleichen aus und werden schließlich schneeweiß. Diesen Rüssel - man nennt ihn Sipho - strecken sie bei Flut bis an die Wattoberfläche. Er hat zwei Öffnungen. Durch die eine strudelt das Tier Atemwasser mit mikroskopischer Nahrung in sich hinein und aus der anderen wieder heraus. Bei Ebbe zieht es den Sipho ein, und wenn das Watt durch unsere Schritte erschüttert wird, erschrickt die Muschel und zieht sich noch mehr zusammen, dabei das letzte Wasser aus sich herausspritzend. Etwas tut sie das auch, wenn das Watt trocken fällt. Ich habe das bei Trischen oft beobachtet, wenn ich während der Ebbe einen Priel im Boot ohne Paddelschlag heruntertrieb. Da konnte die Tiere nichts erschreckt haben, und doch sah ich rechts und links überall diese Springbrunnen aufspritzen."
"Es ist wirklich toll, wie das Watt lebt. Es ist die reinste Mietskaserne. Im obersten Stock leben die Schlickkrebschen, darunter die Herzmuscheln, darunter die Sandwürmer und sozusagen im vierten Stockwerk in der Tiefe diese Klaffmuscheln!" Sie lachten über Jans Vergleich. Inge wollte noch wissen, ob man die Muscheln essen könne. Heio hatte sie schon oft probiert und gab an, daß die Fischer behaupten, sie seien in den Monaten mit R besonders schmackhaft. Vermutlich hinge das mit dem Laichen der Tiere zusammen. Es war nun schon später Nachmittag, und die Flut mußte bald kommen. Sie brachten das Geschirr in die Boote und gingen der fernen Wattkante zu, hinter der silbern das Meer glänzte.
"Wie schön ist es, daß wir solch ruhiges sonniges Wetter haben. Nur dadurch konnten wir das alles so ungestört erleben und einen wirklichen Einblick in die Tierwelt des Watts gewinnen. Ich hätte nie geglaubt, daß solches Leben das Watt erfüllt!"
Jan hatte angespannt seitwärts über das Watt geschaut. "Was hast du, Jan?" fragte Inge. Aber dann sahen es auch die ändern. Wo eben noch das mattbraune Watt war, glänzte jetzt eine helle Fläche. Die Flut kam. Aber woher kam sie? -
"Die Flut muß doch von vom kommen", rief Inge, "wir gehen ihr doch gerade entgegen. Und da vorne an der Seekante ist doch noch alles trocken!"
Aufgeregt schrie Heio: "Nein, da vorn liegt das Watt hoch. Das ist häufig so an den Kanten, weil da Strömung und vor allem Brandung und Seegang das Watt aufgeschaufelt haben. Die steigende Flut ist zuerst in die Priele geströmt und hat nun in dem niedrigen Gebiet der Prielverzweigungen schon alles überschwemmt. Sie kommt von hinten und wird noch unsere Boote wegtreiben, wenn wir die nicht rechtzeitig erreichen!"
Sie rannten zurück. Glücklicherweise war das Watt fest und federnd. Sie blieben Sieger und standen tief atmend mit klopfenden Herzen neben ihren Booten, als die Flut in langen Zungen, schmutzige Schaumballen vor sich herschiebend, knisternd an sie herankroch.
Bald waren ihre Boote flott, und mit langsamem Paddelschlag fuhren sie auf Neuwerk zu.

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