Das verbotene Paradies im Greifswalder Bodden

In manchem Sommer meiner Kindheit gab es in Greifswald mehr Polizisten und sonstige Bewaffnete als gewöhnlich. Dann wurden alle Mülltonnen, die sonst zur Unterstützung des volkseigenen Abfuhrprozesses an den Straßenrändern abgestellt waren, weggeräumt und auch sonst herrschte etwas mehr kommunale Ordnung. Den Eingeborenen war klar: ERICH fährt zum Vilm! Auf jeder Nebenstraße der Via Erich (Ostberlin - Lauterbach/Rügen) wurde der Verkehr für lange gestoppt und selbst die Straßenauffahrten der Felder waren mit je zwei Uniformierten besetzt. Da das die Volkspolizei allein nicht bewältigen konnte, halfen Freiwillige Feuerwehr, Kampfgruppe usw. usw.
So wurde sichergestellt, dass der Genosse Honecker vom ihn liebenden Volk der Deutsch-Kratsch-Plik nicht auf der Reise zu seiner Ferieninsel belästigt wurde, hatte er sich doch schon durch seinen Aufenthalt im Automobil westeuropäischer Fertigung dem Klassenfeind mit revolutionärer Wachsamkeit entgegengestemmt. Dann noch eine kleine Fahrt mit der Barkasse - und schwups war Erich in Sicherheit.
Meinem Ur-Urgroßvater widerfuhr es ärger. Als Besitzer eines Lauterbacher Kaufmannsladens mit Telefon sollte er in einem Winter des jungen 20. Jahrhunderts eine Nachricht zur fernmeldetechnisch unversorgten Insel Vilm bringen. Er fuhr mit seinem Piekschlitten für immer in ein Eisloch.
Damals war die Insel noch von Bauern bewirtschaftet worden und diente der Versorgung der Rüganer. Aber schon in der Vorzeit wurde der Natur besondere Rücksicht zuteil. 1538 erfolgte der letzte Holzeinschlag. Bis 1890 stand auf dem Vilm (sprich "Film") eine Eiche, in deren Hohlraum 16 Personen Platz gefunden haben sollen. Auch Caspar David Friedrich fand auf dem Vilm (altslawisch "Ulme") seine Motive. 1936 wurde die Insel zum Naturschutzgebiet erklärt und 1945 im Zuge der Bodenreform in Volkseigentum überführt. Anfang der fünfziger Jahre lockte eine Segelschule Besucher auf die Insel.
Ab 1959 war die Insel Vilm für den Besucherverkehr gesperrt. Offiziell wurde ein "Gästehaus des Ministerrates der DDR" eingerichtet. Und da die später gern blaubehaarte Margot in Ihrer Verantwortung für das famose DDR-Schulsystem mit Wehrkundeunterricht, Freundschaft zur Sowjetunion und Jugendwerkhöfen als Volksbildungsministerin residierte, durfte sich auch Erich im Zuge der humanitären Familienzusammenführung von den Strapazen des Kampfes um den ersehnten Staatsbesuch in den USA oder die dreimillionste Plattenbau-Wohnung in der DDR auf dem Vilm erholen.
Weil Margot Honecker 1989 mit der Gefolgschaftsverweigerung der DDR-Kinderschar auch ihres Urlaubsanspruchs auf dem Vilm verlustig ging, mutierten einige der zahlreich vorhandenen Angestellten der Regierung von Schutzexperten zu Naturschutzexperten. 1990 war ich dann mit einer Gruppe Biologen der Greifswalder Uni auf der Insel und erfreute mich an den Erfolgen der Umschüler - das war ein Spaß! Wenn es um Erich selbst ging, wurden die immer ganz feierlich.
Zum Schluss gab es in Erichs Kantine Kaffee und Torte. Ein Stück Elitetorte.

Die Fotos stammen von dieser Exkursion.

spierentonne.de - über das Leben am, im und auf dem Wasser   ©Roland Stelzer  Impressum