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ZWISCHEN LAND UND MEER
Sie zelteten neben der Ostbake Neuwerks auf grünem samtenem Vorlandrasen. Ihr Schlaf war tief und traumlos. Ihre Gesichter brannten von Salzwind und Sonne. Im Einschlafen war das müde Glücksgefühl eines Tages in ihnen, der bis an den Rand gefüllt gewesen war mit Schauen und Erleben; aber im Erwachen leuchtete schon das Bewußtsein kommender Ereignisse.
Als Jan das Zelt öffnete, sah er das "Frauenzelt" leer. Inge war nicht da. Nicht weit vor dem Zelt rollten wie kleine graue Bällchen Strandläufer und Regenpfeifer durch das niedrige Gras. Ein paar Austernfischer, diese herrlichen schwarzweißen Schnepfenvögel mit dem langen roten Schnabel, schrien über dem Watt.
Die Sonne war eben aufgegangen, und die Luft war still und ruhig. In unsagbar schönen Farbtönen schimmerten Watt, Himmel und das mattgrüne Inselland. Hinter dem Deich stand groß und wuchtig, alles beherrschend, der alte Wacht- und Leuchtturm, hinter dessen meterdicken Mauern einst Störtebeker gesessen haben sollte. Der Rausch dieser Farben packte Jan so, daß er zu zeichnen und zu malen begann und Inge und alles vergaß.
So saß er, als Heio erwachte und aus dem Zelt kroch. Ohne Jan zu stören, machte er sich auf die Suche nach Inge. Hier und da waren auf dem Vorlandboden rasenfreie Stellen. Dort hatte die Trockenheit der letzten Tage den dunklen Schlick in vieleckigen Rissen springen und aufplatzen lassen. Dazwischen war der Boden wie mit einem glitzernden weißen Schimmelüberzug versehen. Salzausblühungen!
Bald war er an der Uferkante. Das Watt lag vor ihm. Ziemlich weit hinaus zogen sich steinerne Uferschutzbauten, lange Stacks und Granitwälle, die bei Flut die Kraft der Strömung brechen sollten. Überall standen zwischen ihnen die spannenhohen Quellerpflanzen, die wie eine mißglückte Kreuzung zwischen Tannenbaum und Kaktus aussehen. Ihre fleischigen, einzeln stehenden Büschel gedeihen noch bis zu 40 cm unter dem normalen Hochwasserstand.
Sie vertragen die regelmäßige Überflutung mit Salzwasser. Das Gras kann das nicht, und deshalb zeigen die ersten Grasbüschel etwa die mittlere Hochwasserlinie an, die Grenze zwischen Land und Meer. Das gilt natürlich nur für die Küstenstrecken, an denen ein allmählicher Übergang oder ein langsames Vorrücken des Landes gegen die See festzustellen ist, und nicht an den Abbruchzonen.
Heio dachte an die gewaltigen Landgewinnungswerke, die er an der Dithmarscher Küste kennengelernt hatte, während an anderer Stelle der Mensch sich nur mühsam gegen die ständig nagenden Fluten behaupten konnte.
Er turnte auf dem Steinwall ins Watt hinaus. Die saftiggrünen Quellerpflanzen, die mit ihren Wurzeln den Schlick halten und mit ihren Zweigen bei Flut den Wellenschlag dämpfen, sind die Bundesgenossen des Menschen beim Kampf um das Land. Sie schaffen genau wie die Landgewinnungswerke, die Buhnen, Stacks, die Faschinenzäune und die Gruppen, ruhiges Wasser und dämpfen Wellenschlag und Strömung. Dadurch bringen sie den schwebenden Schlick bei Hochwasser zur Ablagerung.
Während er diesen Zusammenhängen nachging, war er schon fast bis an das Ende des Steinwalles gekommen. Hier draußen war das Watt fester und sandiger, und am Ende des Walles hatte die Strömung eine Vertiefung geformt, die als wassergefüllte Wanne bei Ebbe zurückgeblieben war.
Daneben lag auf den runden Steinen Inge in der Morgensonne, deren Strahlen gerade anfingen zu wärmen. Heio war glücklich, das Mädchen gefunden zu haben. Es hatte hier draußen wohl gebadet. Wollte es nun allein sein? Aber Inge hatte ihn schon gesehen und winkte ihn heran.
"Auch schon aufgestanden, alter Faulpelz! Was macht Jan?"
Heio empfand die Frage mit einem ganz leisen Stich, aber sie nickte nur zu seinem Bericht und begann, ihn gleich vielerlei zu fragen, so daß er sah, daß ihre Seele ganz von der Landschaft eingenommen war. So erzählte er ihr von dem Queller und von dieser Grenzzone des Watts zum Land, berichtete von allmählichem Übergang, von Landgewinnungswerken und von mannshohen Abbruchkliffs, die die Flut an andern Stellen geschlagen hat. Sie hörte zu, die Arme unter dem Kopf verschränkt und ihn lächelnd betrachtend. Das verwirrte ihn irgendwie und brachte ihn zum Schweigen. Woran sie wohl dachte? Er wurde nicht klug aus ihr. Machte sie sich über ihn lustig? Aber die warme Freude, die sie über all das Neue und über die wunderbare Welt des Watts empfunden hatte, war echt gewesen.
Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sagte sie - und ihre Worte klangen seltsam schwer in der Morgenstille: "Du mußt nicht denken, daß mich das alles nicht interessiert. Ich mußte nur darüber lächeln, wie klar und sachlich du das beschreibst. Bei Jan ist das ganz anders. Er nimmt alles durch seine Augen auf, und es fließt ihm in Form und Farbe auf das Blatt. Mitunter denke ich, daß wir Frauen vielleicht ähnlich erleben, nur noch unbewußter. Ich spüre das alles irgendwie mit dem ganzen Körper." Sie zögerte und fuhr dann wie tastend fort:
"Weißt du - aber du darfst nicht darüber lachen! - als du vom Queller und der Landgewinnung erzähltest, war ich irgendwie das Meer, das sich träge zur Kante wälzte. Ich spürte, wie alles Schwere in mir sich zwischen Stack und Pflanzen zu Boden schlug. Ich war aber auch der neue Boden, der bei Ebbe weich und warm und atmend in der Sonne lag. Und als du von der Abbruchkante erzähltest, da war ich die Brandungswelle, die bei Flut in die Hohlkehle schlug, alle Ritzen erfüllte und ganze Blöcke der Grasnarbe mit sich riß, aber ich war auch das Vorland selbst, das an dieser Stelle zerstört wurde; ich empfand die rhythmischen Schläge der heranbrausenden Wogen und wurde erfüllt von der drängenden heißen Gewalt des Wassers, das sich in alle Höhlungen ergoß!"
Sie schwieg, und Heio fühlte ein fremdartiges zitterndes Glücksgefühl, daß sie ihm dies alles sagen konnte. Es war überschattet von einer leisen Furcht, geringer zu sein als Jan, dem sie sich in ihrem Fühlen verwandt genannt hatte.
Als ob sie auch diese Gedanken gespürt hätte, fügte sie leise hinzu: "Aber um all diese Gefühle ganz stark und bewußt in mir werden zu lassen, brauche ich das Wissen darum, müssen meine Augen aufgetan werden, und ich muß die Vorgänge um mich herum in ihren Zusammenhängen sehen und verstehen."
Sie zögerte und schwieg. Auch Heio wagte nicht zu sprechen oder zu fragen, ob er ihr dabei helfen könnte. War sie nicht schon deutlich genug gewesen? Sagte ihr Schweigen nicht mehr, als klare Worte zu sagen vermochten? Wie unvollkommen ist die Sprache, um die leisen Schwingungen des Herzens, um die seltsamen Gefühle auszudrücken, die ihn erfüllten. Würde nicht alles falsch und unwahr, wenn er versuchte, es auszusprechen? Für Jan schien alles so einfach und unkompliziert. Er sagte wenig, aber was er sagte, traf meist den Nagel auf den Kopf.
Heio mußte sich an das klammern, was er sah, was er mit allen seinen Sinnen begreifen konnte, um nicht ins Uferlose geschwemmt zu werden. Sein Wissen erschloß ihm viele Zusammenhänge, aber er ahnte dahinter noch weit größere und tiefere Dinge.
Es war ihm oft, als stände er vor den Toren einer neuen großartigen unbekannten Welt. Er hatte stets dies Gefühl, wenn er irgendein Lebewesen betrachtete, wenn er Wasser, Wind oder Sonne wie mit Gottesfingern das Land zeichnen sah. Gleich, gleich mußte das Tor aufgetan werden! Er wartete, wartete mit schmerzlichem Sehnen. Die Riegel waren gelockert. Ein unerträglich strahlendes Licht drang durch den Spalt aus der dahinterliegenden Welt hervor. Aber dann zog es wie Wolken dazwischen, und krachend schlug das Tor zu und verschloß jene andere Welt fester als je zuvor.
Ob Inge etwas von diesen Dingen ahnte? Er hatte mitunter das Gefühl, als wisse sie mehr davon als er, als lebte sie zuweilen in dieser Welt. Hatte er deshalb dieses Ziehen, dieses schmerzliche Glücksgefühl in ihrer Nähe? Hinten auf dem Steinwall sah er Jan herumturnen; auch Inge sah ihn.
"Ich hab dich noch eine Menge zu fragen", sagte sie leicht und mit klarer Stimme. "Dieser Tümpel hier am Buhnenende ist das reinste Aquarium. Als ich mich hier eben badete und wusch, sah ich Schollen und Garnelen darin herumhuschen. Grüne schleimige Blätter wie Salat liegen darin und andere gewellte grüne breite Bänder."
"Ja", sagte Heio widerwillig. "Das sind Algen, die Meersalat und Meerulve heißen, und die Tausende von stecknadelknopfgroßen Schnecken, die darauf sitzen, sind die Schlammschnecken Hydrobia ulvae." Er sagte das ohne Interesse, wie auswendig gelernt. Es ärgerte ihn, daß ihr Alleinsein unterbrochen war.
Sie hatte sich aufgerichtet und legte ihre Hand über die seine. Als er aufsah, begegnete er ihrem Blick, der prüfend in seinem lag. Sie schüttelte ganz leicht ihren Kopf und krauste ihre Stirn.
"Mußt nicht, Heio!" flüsterte sie, sich ihm rasch zuneigend. "Wenn du so sprichst, verstehe ich nichts, und das will ich auch nicht wissen."
Sie stand auf und kletterte über die Steine bis zu dem klaren Wasser.
Die Steinschüttung war mit eingerammten Pfählen befestigt, und hier unten am Wasser waren Pfähle und Steine mit Tausenden von blauschwarzen Miesmuscheln besetzt, die sich mit zähen braunen Fäden aneinander festgesponnen hatten. Inge stieg in das klare Wasser, und Heio sah die Sonnenreflexe der kleinen Wellen über den Grund und über ihre bloßen Füße laufen.
"Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie die Tiere sich so anspinnen können und was das für merkwürdige andere Muscheln sind, die so höckerig dazwischen sitzen."
Ihre frische Art löste Heio, und er war frei und ganz bei der Sache, als er ihr nun von dem im Wasser rasch erhärtenden Sekret berichtete, das die Muschel in ihrer Byssusdrüse abscheidet und mit dem sie ihre Haltetaue herstellt.
"Die weißen Muscheln aber sind gar keine. Das sind Seepocken, festsitzende Krebse!"
Inge schaute ihn zweifelnd an, ob er einen Scherz mache, und sagte zu Jan, der inzwischen herangekommen war: "Du, er will mich schon am frühen Morgen anschwindeln!"
"Das sollte ein Lehrer bei einer so wißbegierigen Schülerin nicht tun!" sagte Jan. Klang in seiner tiefen Stimme ein ganz leiser spöttischer Unterton?
Aber Inge entgegnete: "Oh, ich will euch zeigen, was ich gelernt habe. Alle Tiere mit einer gewundenen Schale sind keine Muscheln, sondern Schnecken. Alle Muscheln aber haben zwei Schalen. Und nun sieh einmal hier! Da sind deutlich zwei kleine Schalen zu sehen. Die gehen immer auf und zu, und wenn sie sich öffnen, kommen da so eine ganze Menge von Füßchen heraus, die durch das Wasser peitschen, und dann schließen sich die Schalen wieder." "Glänzend beobachtet", sagte Heio, "aber die Schalen sitzen oben auf einem Kalkkegel, und eine Muschel besteht im ganzen aus nur zwei Schalen. Außerdem sind die Beinchen, die da herausschlagen, gegliedert, sowas gibt es bei einer Muschel nicht. Endlich hat man die mikroskopischen Larven untersucht, die sich aus den Eiern dieser Tiere bilden, und die haben genau die gleiche Form wie bestimmte andere Krebslarven und sehen ungefähr so aus wie die der kleinen Hüpferlinge im Süßwasserplankton. Zu dieser merkwürdigen Gruppe von festsitzenden Krebsen, den Rankenfüßlern, gehört auch die Entenmuschel - ihr seht, der Volksmund bezeichnet sie direkt als Muschel - die auf einem Stiel sitzt und mehrere Kalkschalen hat, die eine zweiklappige Muschel bilden. Man findet sie oft auf Treibholz, und in Spanien hab ich den fleischigen Stiel dieser Tiere gern gegessen."
"Brr, schmecken die nicht scheußlich?"
"Nein, so ähnlich wie Krabben!"
Jan stocherte unten an einem Buhnenpfahl zwischen den Steinen herum. Plötzlich lief ein großer runder Krebs mit hoch erhobenen Scheren seitwärts davon, um sich ein wenig weiter rasch mit seinen Hinterbeinen rückwärts in den Sand einzuwühlen.
"Ein Taschenkrebs!" rief Inge.
"Nein, Taschenkrebse leben in tieferem Wasser und haben schwarze Scherenspitzen. Dies ist eine Strandkrabbe. Alle Krebse, deren Hinterleib so untergeklappt ist, daß man ihn von oben gar nicht sehen kann, nennen wir Krabben. Auch unsere Wollhandkrabbe in der Elbe, die aus China vor gar nicht allzu langer Zeit eingewandert ist und in Süß- und Salzwasser leben kann, gehört dazu."
"Wie konnte denn die ausgerechnet aus China hierher kommen?"
"Vermutlich sind Larven im Bodenbewuchs von Schiffen verschleppt worden. Denn nach einer langen Fahrt sind die Schiffsrümpfe oft fast ebenso bewachsen wie die Pfähle hier."
Jan hatte einige Miesmuscheln von den Pfählen gelöst. "Seht mal hier", rief er, "da krabbelt ein ganz winziger Krebs heraus. Das ist vielleicht so ein Tierchen, von dem du uns da erzählst."
"Nein, das ist ein Muschelwächter, aber nun streike ich als Zoologe. Sage mir mal lieber, Jan, wie du die Farbe dieser Tange an den Pfählen mischen würdest. Ich habe mich einmal abgemüht, dies sanfte Braun herauszubekommen. Hier ist ja nur der Sägetang und Blasentang zu sehen. Auf den Klippen Helgolands fand ich ganze untermeerische Urwälder von Palmblatt-Tangen, dazwischen die wunderschönen zart rosaroten Rottange."
"Ach, sagen kann ich dir das nicht. Du kannst es am besten selbst versuchen. Du mußt ein wenig Ocker, gebrannte Sienna, Umber und Grüngelb nehmen, aber es kommt auch ganz auf das Licht an! Wie anders sind die Farben, wenn du an gestern abend denkst, wo das Watt wie dunkelbrauner Samt wirkte gegen das perlmuttfarbene rötlich schimmernde Wasser. Und heute das helle Gelbweiß gegen das tiefdunkle Ultramarin der See."
"Ja, so hart und klar sind die Farben selten, nur mitunter bei solcher Nordostwetterlage. Meist hat der Sand diesen sanften Farbton, an dem ich mich auch schon so verzweifelt oft versucht habe."
"Da mußt du ,Grüne Erde' mit hineinmischen!"
"Na, es hat wohl doch keinen Zweck bei mir. Bei dir fließt es gleichsam von selbst aus dem Pinsel, und bei mir bleibt es ein mühsames Konstruieren und Probieren. Und dann überhaupt die Farben des Himmels, dieses zarte dunstige Graublau mit den Wassertönungen darunter, die man überhaupt nicht ausdrücken kann in ihrem Wechsel zwischen Gelbgrün und Bläulich und allen möglichen anderen Tönungen. Dieses Durcheinanderlaufen der Farben! Und doch bleibt darin noch alles reinlich getrennt. Diese Lichter und wechselnden Formen! Der Schwung einer solchen Sandbank, der Bogen eines solchen Prieles oder die Form eines solchen Tanges, eines Krebspanzers oder einer Muschelschale! Ist es nicht zum Verrücktwerden schön? Wenn du mir das malen könntest, Jan - weißt du, so ganz, wie es mich hier anrührt!
Aber ich glaube, das kriegst auch du nicht fertig."
"Nein, Heio, das kriege ich auch nicht. Siehst du, wir alle erleben zwar dieselbe Umwelt, aber wir erleben sie nicht gleich. Wir haben vielleicht die Sehnsucht danach, mit unsern Freunden einen vollendeten Gleichklang zu empfinden. Aber es ist ganz, ganz selten. Im Grunde bleibt jeder einsam!"
Jan hatte die Worte in seiner ruhigen und bestimmten Art ausgesprochen, und doch klang es wie ein Unterton von Schwermut darin, in den nun die helle Stimme Inges drang.
"Aber das Wissen um die Einsamkeit des andern gibt uns die Möglichkeit, Brücken zu bauen. Sie stürzen zwar immer wieder ein. Aber genügt es nicht, einmal den andern ganz verstanden zu haben, einmal Hand in Hand das gleiche gefühlt zu haben?" Sie hatte bei diesen Worten beiden ihre Arme um die Schulter gelegt.
"Was wären wir ohne die Frau?" lachte Jan, und alle drei turnten über den Steinwall zurück nach Neuwerk, wo der hohe alte Leuchtturm hinter dem Deich aufragte.
Nach einem ausgiebigen Frühstück am Zelt wanderten sie über das Vorland zum Deich.
Im Schutz des hohen grünen Walles lagen die Häuser und Wiesen der kleinen Insel. Sie wanderten rings um sie herum, sahen den Wagenweg von Duhnen aus dem Watt kommen mit den vielen kleinen Buschzeichen.
Eine Karawane von vier Wagen näherte sich. Die Pferde liefen im Trab rasch dahin. Das Wasser spritzte, und die hochräderigen Karren kamen schnell heran. Es schienen Badegäste aus Cuxhaven zu sein, die sich als Sondervergnügen eine Fahrt nach Neuwerk geleistet hatten. Trotz der noch ziemlich großen Entfernung klangen die Stimmen deutlich vernehmbar über das Watt. Bald rollten die Wagen über das Vorland und die Schräge des Deiches empor zum einzigen Gasthaus der Insel.
Die drei gingen weiter um den Deich.
Draußen im Watt stand die Nordbake. Sie liefen über Schlamm und Sand dorthin, und es machte ihnen Spaß, den glatten Sand und die festen Riffelungen des Watts an den bloßen Sohlen zu spüren. Kleine Pfützen klaren Wassers standen überall, in denen es von kleinen Krabben wimmelte. Warm spritzte das Salzwasser an ihre Beine, und sie atmeten mit Wonne die frische Salzluft wieder ein, die hier draußen über das Watt strich.
Um das Holzgerüst der Bake, das mit Stahltrossen auf einem Steinsockel befestigt war, lag ein Duft von Teer und warmem Holz. Einen Augenblick hielten sie ein und lauschten in die Stille, in der nur das klagende Rufen der Regenpfeifer und das leise Knistern des Watts zu hören war.
Dann ging es zurück zum Deich. Fern schob sich in breiten, silbern glänzenden Flächen schon wieder die Flut über das Watt, Tausenden von Geschöpfen dieses Zwischenreiches wieder Leben und Atem gebend.
Sie wandten sich zum eingedeichten Koog.
Der Spiegel eines Teiches blitzte, von nickendem Schilfe umrahmt. Daneben stand auf einer gewaltigen Wurt der alte Burg- und Wachtturm von Neuwerk. Zu ihm stiegen sie hinauf.
Wuchtig ragten seine roten Mauern mit den kleinen Fenstern in den Himmel. Ein grauer Alter mit buschigen Brauen, unter denen durchdringende helle Augen blitzten, nahm sie in Empfang, und sie stiegen Treppe um Treppe empor. Sie staunten die ungeheuer dicken Mauern an, in denen die Fensterlöcher wie kleine Stuben oder Gänge wirkten.
Sie hatten gefürchtet, eine Art Museumsführer hier zu finden, der in einem leierigen Tone Jahreszahlen und Größenangaben mit unverstandenen Stilbezeichnungen und historischen und kunstgeschichtlichen Fachausdrücken zu einem unerträglichen Ragout mischte; aber sie fanden nichts dergleichen. Der Alte war schweigsam und warf nur hier und da einige launige Bemerkungen ein.
Sie malten sich aus, wie es zu den Zeiten Claus Störtebekers hier hergegangen sei. Ob er hier auch seinen gefangenen Feinden den mächtigen Silberkelch mit Wein aufgezwungen hatte? Hier draußen in der Elbmündung hatten seine Raubschiffe gelegen, als der Sage nach der Verräter in der Nacht flüssiges Blei in die Angeln des Steuerruders goß und damit in der folgenden Seeschlacht mit den Hamburger Koggen das Flaggschiff unbeweglich machte. Sie dachten daran, wie sie am Weihnachtsabend im Hamburger Ratsweinkeller unter dem Glasfenster gesessen hatten, in dem "die bunte Kuh von Flandern", das Flaggschiff des Hamburger Ratsherrn und Seehauptmannes Simon von Utrecht in Glasmalerei dargestellt war. Und noch trug der Turm von Sankt Katharinen am Hamburger Hafen die Krone aus Störtebekers Gold, das in dem hohlen Mast des abgewrackten Raubschiffes gefunden worden war.
Aber der Neuwerker Turm war ja als ein Wachtturm von den Hamburgern gebaut, die hier draußen im Watt auf der Neuen Insel, der Nige Ooge, ein neues Befestigungswerk angelegt hatten. Darum heißt die Insel Niewark, Neuwerk. Mit den Seeräubern ist das Gebäude nur der Sage nach verbunden. Und von der Krone des Turms schickt jetzt in jeder Nacht das Leuchtfeuer seine tausendkerzigen Strahlen, verstärkt durch riesige, komplizierte Prismensysteme, hinaus auf die weite See. In Sturm und Wetternacht zeigt es den suchenden Schiffen den Weg.
Ganz oben durften sie nicht sein. Aber dicht unter dem Feuer ließen sie den Blick hinaus in die Weite über das Watt schweifen, das jetzt schon fast ganz untergetaucht war. Nach der einen Seite blickten sie hinüber bis nach Duhnen, Cuxhaven und der Kugelbake. Nach Westen schauten sie bis in die Watten der Wesermündung, und nach Osten blickend konnten sie mit dem Fernglas die Bake von Trischen über der Kimmung erkennen. Im Norden aber lag ein riesiger bleicher Sand, umsäumt von schneeweißen Brandungskränzen und überragt von dem dunklen Gerüst einer mächtigen Bake - ihr nächstes Ziel, Scharhörn.
Der Blick des Graubartes ruhte grimmig auf dem Sand. "Der hat schon arg viel gefressen und ist noch immer hungrig", meinte er und erzählte in dürren und nüchternen Worten die Geschichten der letzten Strandungen - von den Notraketen - von der oft vergeblichen Benachrichtigung der Cuxhavener Bergungsdampfer - von den ebensooft vergeblichen Rettungsunternehmen und von den traurigen Wagenfahrten nach Scharhörn, wenn der Sturm vorüber war. Tote und Wracktrümmer waren meist das einzige, was sie bergen konnten, und die namenlosen stillen Gräber auf dem Inselfriedhof konnten viel berichten. Aber die Scharhörnbake, in die hoch oben ein Zufluchtsraum für Schiffbrüchige gebaut war, hatte auch das Leben so manches Seemannes gerettet.
Die dunklen Dramen dieser Herbst- und Winterstürme und dieser Frühjahrskatastrophen wurden ihnen in den nüchternen kurzen Worten des Alten erschreckend lebendig. Sie hatten alle schon selbst davon einen schwachen Abglanz erlebt, aber vielleicht gerade darum liebten sie dieses Land, dieses Meer, diese Küste mit einer Liebe ohne Worte. So, gerade so mußte die Landschaft sein, in der sie ganz leben konnten.
Es war still in dem großen dämmerigen Raum. Nur der Wind rüttelte an den Fensterscheiben, und von draußen sah die Unendlichkeit des im Sonnenglanze blitzenden Meeres herein. Es war Hochwasser und Zeit zur Abfahrt.
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