Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

Das Projekt |  Über Werner Wrage |  Das Buch |  Die Fotoalben | 

Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

BEI FLUT ÜBER DAS WATT
Sie sprangen auf und brachten ihre Boote zu Wasser. An den glitschigen, tangbewachsenen Steinen der Uferbefestigung war das gar nicht einfach. Mit einem Seufzer der Erleichterung schlossen sie die Spritzdecke und trieben ihre Boote mit ein paar Paddelschlägen in die Ebbströmung, die schon mit voller Kraft eingesetzt hatte. Bald hatten sie die Kugelbake erreicht, und hinter diesem charakteristischen Seezeichen bog die Küste scharf nach Westen ab.
Nun öffnete sich die ganze Weite der Nordsee vor ihnen. Fern über dem glitzernden Horizont sahen sie als dunklen Strich die Insel Neuwerk, überragt von der Silhouette des alten Leuchtturms. Das Watt war noch überspült, aber man konnte die Grenzen der größeren Priele und den Wattrand an langgestreckten Schaumstreifen zuweilen deutlich erkennen. Um nicht durch die Ebbe zu bald auf Sand und Schlick gesetzt zu werden, hielten sie sich im freien Fahrwasser der Außenelbe.
Ein Motorfischerboot kam ihnen entgegen. Es war ein Krabbenfänger. "Du", rief Jan, "wollen wir mal versuchen, ob wir frische Krabben bekommen?" "Das ist eine glänzende Idee", antworteten die beiden anderen. Das Pochen des Glühkopfmotors kam näher. Das Krabbennetz war zum Trocknen am Mast aufgehängt, und der große Krabbentopf dampfte. Heio rief den Fischer an: "Können wir nicht ein paar Pfund Krabben bekommen?" "Ja, kommt man längsseit!" Während er ihnen in einer riesigen Tüte, die er merkwürdigerweise an Bord hatte, die Krabben abwog, erzählte er ihnen mit pfiffiger Miene und lustigem Augenzwinkern plattdeutsche Döntjes. Als sie sich über die schönen großen Krabben freuten, meinte er: "Jo, wi kakt ok jümmers so'n paar olle rostige Nagels mit, denn ward se scheun rot!" Lachend schieden sie, der Kutter töffte weiter, und sie sahen noch das lohbraune Netz über dem schwarz-weißen Bootsrumpf mit dem rauchenden Schornstein des Krabbentopfes vor der graugrünen Salzflut, bevor sie weiterfuhren.
"Du", sagte Jan, "die Geschichten, die der Fischer uns erzählte, müßte man eigentlich aufschreiben." "Beruhige dich! Das ist schon geschehen. Ich habe sie alle schon bei Harry Reuß-Löwenstein gelesen." Alle lachten über den literarisch gebildeten Krabbenfischer.
Neben und vor ihnen tauchten schon einige blaßgelbe Sandbänke aus der glitzernden Fläche, auf der sich hier und da seltsame Wirbel bildeten. Die Wellen liefen kraus durcheinander und bildeten ein merkwürdiges Kabbelwasser. An diesen Stellen kreiste immer eine Wolke von Möven oder Seeschwalben, die kreischend und zankend bald rüttelnd und spähend in der Luft standen, bald wie ein Stein ins Wasser stießen, um mit einem Fisch im Schnabel wieder emporzuflattern, verfolgt von einigen neidischen Genossen. Das im Sonnenlicht schneeweiße Gefunkel ihrer Schwingen vor dem dunstigen Graublau des Himmels war ein herrliches Bild. Schön waren auch einzeln vorüberstreichende große Silbermöven mit gelbem mächtigem Hakenschnabel, in dem ein zinnoberroter Fleck glänzte, oder die noch größeren Mantelmöven mit den schwarzen Flügeldecken.
Da die Wattkante stark nach Osten abbog, nahmen sie doch wieder direkten Kurs auf Neuwerk, das jetzt schon deutlicher vor ihnen stand. Einige Pricken ragten aus der Flut. Um die Birkenstämme quirlte das Wasser, und sie merkten, wie stark die Boote von der Strömung weggerissen wurden.
"Das ist der große Priel, in dem vergangenes Jahr das Unglück passierte", erzählte Heio. "Man kann ja Neuwerk auch von Duhnen aus zu Fuß oder mit dem Wagen erreichen. Es sind besonders hochräderige Fahrzeuge, die diese Fahrt machen. Der Weg im Wattgrund ist durch niedrige Büsche gekennzeichnet. Sie können nicht mit den Pricken verwechselt werden, die ja hoch sein müssen, um bei Flut aus dem Wasser herauszuragen, weil sie Wegweiser für die Schiffe sind. Auf halber Strecke kreuzt den Wagenweg dieser Priel, auf dem bei Flut die Schiffe von der Weser zur Elbe und umgekehrt gelangen können.
Wie reißend der Priel ist, spüren wir jetzt. Es führt bei Niedrigwasser natürlich eine Furt hindurch. Die ändert sich aber rasch. In jedem Jahr und nach jedem Sturm muß man eine neue suchen. Das hatte der Kutscher eines Wattfuhrwerkes unterlassen, und als der Wagen in den Priel fuhr, geriet er an eine tiefe Stelle. Die Pferde wurden weggerissen. Der Wagen kippte um, und mehrere Personen ertranken."
"Ich habe schon früher gehört, daß eigentlich in jedem Jahre hier Fußgänger auf dem Wege nach Neuwerk verunglücken", sagte Inge. "Aber es sind fast ausnahmslos solche, die leichtsinnig, ohne Führer und ohne mit den Erscheinungen der Gezeiten und mit Wind und Wetter an unserer Nordseeküste vertraut zu sein, so eine Wanderung unternehmen."
"Ja, und unterdessen sind wir gleich gänzlich von unserem Ziel weggetrieben, wenn wir nicht bald aus diesem Teufelspriel herauskommen."
Nun versuchten sie mit aller Kraft aus der Strömung zu fahren, was ihnen schließlich auch gelang. Aber dadurch waren sie wieder über dem flachen Watt. Die Ebbe lief schon ziemlich stark ab, und sie bekamen bald mit den Paddeln Grund.
"Wir hätten doch lieber im Fahrwasser der Außenelbe bleiben sollen!" meinte Heio. Aber Jan brummte: "Du bist mir ein schöner Wattenkenner! Jetzt sitzen wir gleich wieder auf dem Trocknen!"
Eine Zeitlang ging es noch gut, aber dann saßen sie wirklich wieder fest. Erfreulicherweise war Neuwerk schon ziemlich nahe. Sie stiegen aus und treidelten. Schließlich war auch das letzte bißchen Wasser weggelaufen, und die Boote lagen auf Schlick und Sand schön trocken in der Sonne.
"Die Schuldfrage ist eindeutig geklärt", meinte Inge. "Aber ich bin bei dem prächtigen Wetter Heio nicht böse, daß er uns zum Wattlaufen zwingt. Ich finde, wir lassen die Boote hier ruhig liegen und gehen mal zu dem dort in der Sonne so schneeweiß herüberleuchtenden Wattfleck."
"Ja, das ist eine Muschelbank oder eine Schillbank. Schill nennen die Fischer solche Anschwemmungen weißer Muschelschalen", erklärte Heio, und dann liefen sie über den elastischen Wattboden.
"I, was sind das hier überall für runde Kringelhäufchen? Das sieht aus wie Würmer."
"Das sind bloß die Kothaufen von Sandwürmern, Inge, die wie dicke fette Regenwürmer hier überall im Watt leben. Sie fressen den Wattboden durch sich hindurch und ernähren sich von den kleinen Tieren und Pflanzen, die darin leben. Den verdauten Sand scheiden sie dann in solchen Kringeln ab, wie sie hier zu Tausenden die Wattoberfläche bedecken."
"Na, ästhetisch ist das ja nicht gerade, aber es ist doch gut, daß wir einen Naturwissenschaftler bei uns haben."
"Aber Inge, sind diese spiraligen Sandringel nicht zuweilen von einer allerliebsten Form? Übrigens graben die Fischer die Würmer aus, um sie als Köder an der Angel zu benutzen!"

spierentonne.de - über das Leben am, im und auf dem Wasser   ©Roland Stelzer  Impressum