Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

Das Projekt |  Über Werner Wrage |  Das Buch |  Die Fotoalben | 

Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

OSTFRIESLANDFAHRT
Nicht weit von der alten Universitätsstadt Münster mit ihren grauen Kirchen und hohen Giebelhäusern fließt die Ems durch flaches Ackerland. Sie schlängelt sich an Bauernhäusern mit tief herabhängendem, grauem Strohdach, mit gekreuzten Pferdeköpfen über dem Dachfirst, vorüber. Um die Höfe und Katen liegen wuchtige Granitsteinwälle, überragt von dicken, knorrigen Eichen. Aber zwischen den hohen Stämmen und an den Wegen stehen große Kreuze, an denen das Bild des Gesalbten die Wanderer daran erinnert, wie die Menschen von jeher das Göttliche und das Gute verfolgt und gequält haben. Hier und da stehen Kapellen, in denen rührende Muttergottesbilder verstehend lächeln, mit bunten Feldblumen als Opfergaben geschmückt.
Jan, Heio und Inge trieben in ihren Booten den Fluß hinab, unter altersgrauen Holzbrücken hindurch. Sie schauten die bäuerliche Welt Westfalens und spürten mit Ergriffenheit die sonst in Norddeutschland ungewohnte bildhafte und bilderstarke katholische Frömmigkeit.
Als die Ems breiter wurde, kamen die Schleusen und die holländischen Frachtschiffer. Kleine Städtchen glitten vorüber, und mitunter verließen sie die geradegelegte und kanalisierte Wasserstraße, trugen die Boote in das daneben noch fließende Altwasser, das sich durch urwüchsige und wilde Laubwaldstrecken wand. Sandbänke lagen in diesen alten Flußbetten, auf denen angeschwemmte Baumstämme moderten, mit Moos und Farnkraut überwachsen. Riesige umgestürzte Eichen sperrten den Strom, und die drei mußten sich vorsehen, daß sie nicht von der Strömung in das Astverhau gedrückt wurden.
Nur die großen, einsamen Moore, die an der unteren Ems liegen sollten, suchten sie vergeblich. In der Nähe des Flusses war alles längst urbar gemacht und kultiviert.
Auf die Dauer aber wurden ihnen die Enge des Flusses, das Grün der Baumgruppen und die Heidehänge lästig. Sie sehnten sich nach freier Weite und begrüßten bei Papenburg freudig die flache Marsch.
Unterhalb der grünen Wälle der längst versunkenen Burg Leerort wurde die Ems breit, und Ebbe und Flut machten sich bemerkbar. An den Ufern tauchten Schlickstreifen, Stacks und Pricken auf. Dann sprang plötzlich links das Ufer zurück, und unübersehbar dehnte sich die Meeresbucht des Dollart. Endlich sahen sie wieder Sandbänke und graue Watten während der Ebbe aus dem Wasser steigen.
In Emden, der alten Stadt, verproviantierten sie sich aufs neue und glitten dann wieder in den Dollart hinaus.
Nun mußte das offene Wattenmeer kommen, aber als sie sich der Mündung dieses mächtigen Meereseinbruches näherten, als gegenüber die holländischen Windmühlen über die Deiche von Delfzyl grüßten, stand solcher Wind über der Emsmündung, daß sie zum Deich flüchteten.
Die Ecke hieß hier "Knock", und eine mächtige Schleuse war im Deich, die das Binnenwasser der feuchten Marsch bei Ebbe nach draußen führte. In Friesland nennt man diese Schleusen Siel. Sie sind ebenso wichtig wie der Deich selbst, denn ohne sie könnte die Marsch in ihrem eigenen Binnenwasser versinken. Schon seit alter Zeit sind die Sieltore so konstruiert, daß der Druck des Binnenwassers sie automatisch öffnet, sobald während der Ebbe draußen der Wasserstand niedriger ist als drinnen. Umgekehrt, wenn die Flut steigt, preßt der Druck des Außenwassers automatisch die Torflügel wieder zusammen. Sie zelteten hier in der Nähe der Schleuse.
Als auch am nächsten Tag der Wind noch so hart war, daß auf der Außenems weiße Schaumkämme standen, trugen die drei Kameraden ihre Boote über den Deich, um auf der breiten Wetter, wie man die Entwässerungskanäle in der Marsch nennt, weiterzufahren und dadurch zugleich einen Eindruck der ostfriesischen Marschen zu bekommen.
Diese liegen an einigen Stellen, wie auch manche Gebiete in Holland oder in der Wilster Marsch, tiefer als der Meeresspiegel während der Flut. Deshalb stehen an vielen Kanälen Windmühlen, deren Hauptaufgabe es ist, mit einem hölzernen Schneckengang das Wasser aus den Gräben der tiefgelegenen Marsch emporzuschrauben, damit es in den von Deichen eingefaßten Kanal geleitet werden kann. Auf seinem Spiegel fuhren die drei dahin und blickten rechts und links auf die tieferliegende Marsch hinab.
Sie kamen an einigen kleinen Dörfern vorüber, deren Häuser dichtgedrängt auf einer Dorfwarft standen. An der höchsten Stelle in der Mitte lag die Kirche, umgeben vom Friedhof. Sie versuchten vergeblich, die alten friesischen Inschriften auf den Grabsteinen zu entziffern. Die kleinen Häuser um die Kirche zeigten die für die holländischen und auch für manche englischen Häuser charakteristischen endständigen Kamine, die über der senkrechten Giebelwand aufragten.
Weiter fuhren sie in die Marsch hinein. Hier und da lag ein mächtiger Einzelhof auf einer Warft. Diese ostfriesischen Bauernhäuser hatten hinten keine Grotdör, wie sie es von den Niedersachsenhäusern gewohnt waren, sondern auf der einen Seite eine Stalltür und daneben die Tür, die zum Wagenschuppen führte. Der Wohnteil vom war stufenartig herausgebaut, aber wie in den niedersächsischen Marschen schützten auch hier Baumgruppen das Haus vor dem ständig wehenden Wind.
So kamen sie in dem Fischerhafen Greetsiel an. Es war gerade Ebbe, und die Schleusentore standen offen, so daß sie hinaus in den Hafenpriel gelangen konnten. Eine große Zahl blonder Fischerkinder spielte dort und umstand staunend die Vorlandecke beim Hafen, in der Inge, Heio und Jan ihre Zelte aufbauten. Sie waren mit Mühe in der tiefen Ebbrinne an einem dort auf dem Schlick liegenden Kutter gelandet und hatten ihre Sachen und Boote auf den grünen Vorlandrasen gebracht. Von hier aus konnten sie weit über das Watt sehen und erkannten fern die Funktürme von Norddeich.
Das Wetter schien besser werden zu wollen. Jan und Heio gingen ins Dorf, um einzukaufen, während Inge schon die Abendmahlzeit richtete. Sie bummelten durch den kleinen Ort, bestaunten den alten efeubewachsenen Turm der kleinen Kirche und kamen, beladen mit Konserven, Buchweizengrütze, Speck und Eiern, zum Hafen zurück. Als sie gerade beim Abendbrot saßen, erschien ein Mann, der sich zu den neugierigen Fischerkindern gesellte, die noch immer die Zelte umstanden. Er war noch bedeutend neugieriger als sie, schaute in die Boote, die Zelte und wollte wissen, was in jedem Gepäckstück sei. Heio war diese Wißbegierde verdächtig, und er raunte Jan zu: "Paß auf, mit dem werden wir noch etwas erleben!"
Sie ließen sich jedoch nicht beim Essen stören und beantworteten die Fragen ziemlich einsilbig. Er wurde aber immer dringlicher und erkundigte sich eingehend nach dem Woher und Wohin. Schließlich gab er sich einen Ruck, faßte sich an den Mittelknopf seiner Jacke und sagte: "Sie müssen nämlich wissen, ich frage nicht privat, sondern dienstlich. Ich bin Zollbeamter!" Die drei schwiegen, nur Heio sagte zufrieden: "Aha!" Die beiden ändern waren so beim Essen beschäftigt, daß es nicht einmal dazu reichte. Der Beamte war sichtlich erschüttert, daß seine Eröffnung so wenig Eindruck machte. "Ich bin nämlich in Zivil, sonst trage ich Uniform!" "So!" sagte Jan, und Inge fügte freundlich hinzu: "Das is ja auch viel bequemer so, nich?!'" Und plötzlich fing Jan an, er habe einen Klassenkameraden, der sei auch Zöllner geworden, und der habe ihm kürzlich geschrieben, er sei neulich beinahe von Schmugglern erschossen worden. Es sei wohl ein sehr schwerer Beruf. Der Zöllner brummte bejahend und zog sich zurück. Bald darauf aber kam er noch einmal wieder und hatte seine amtliche Haltung abgelegt. Er schien sich überzeugt zu haben, daß die drei harmlos waren. Er brachte sogar eine volle Flasche Genever mit, "weil es abends so kühl ist und man bei diesem verdammten Klima so was nötig hat." Nach einigen Trunken taute er dann ganz auf. Er sei eigentlich vom Niederrhein und fühle sich hier ganz und gar nicht wohl. Die Menschen seien so verschlossen und mißtrauisch und vor allem so starrköpfig. Er erzählte von dem regen Schmuggel an der holländischen Grenze. Jeder Fischer und jeder, der überhaupt ein Boot habe, schmuggele hier: - Alkohol, Tee, Kaffee und Tabak. Man betrachte das als ein gutes Recht. Ein Bauer sei wegen Schmuggels zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er habe sich geweigert, sie zu bezahlen, und wolle lieber statt dessen ins Gefängnis. Alle lachten über diese Geschichten, die zudem einen Einblick in einen interessanten Beruf gaben.
Inzwischen war die Flut gekommen, und mit ihr liefen die Boote der Krabbenfischer von See her ein. Eines nach dem ändern tauchte in der Krümmung des Vorlandprieles auf und tuckerte mit pochendem Motor heran. Die großen braunen Netze waren aufgezogen, und die Krabbentöpfe dampften an Bord. In hohen, rötlichgrauen Haufen lagen die gekochten Tiere an Deck. Inge und Heio gingen gleich ans Bollwerk, um frische Krabben einzuhandeln, die hier Granat genannt wurden. Sie ließen Jan mit dem Zöllner zurück. Er ging mit ihm an den Kanal und zeichnete dort die Windmühlen, die groß und dunkel im glühenden Abend standen. Am Morgen fuhren sie mit der Ebbe hinaus ins Wattenmeer. Es war ziemlich ruhig geworden. Sie richteten sich nach den Pricken und strebten zunächst hinüber nach Norddeich. Als sie aber die breite Wattenbucht gequert hatten, bogen sie, bevor sie die Küste erreichten, wieder ab und folgten dem Fahrwasser, das zu der Insel Juist hinüberführte, die sich in der Ferne deutlich mit ihren weiß leuchtenden Dünenkämmen vom graublauen Himmel des hellen Sommertags abhob.
Jan hatte auf dieser Reise ein neues Faltboot, und zwar einen Eskimokajak. Dieses Boot, das vorne sehr hochgezogen war und eine runde Sitzluke besaß, hatte nur eine Breite von 60 cm und war ungemein rank. Als er sich anfangs in das Boot gesetzt hatte, wäre er fast gekentert. Während der Fahrt auf dem ruhigen Wasser der Ems mußte man dauernd das Paddel im Wasser haben, um das Gleichgewicht zu halten. Aber jetzt über den Wellen des Wattenmeeres zeigte das Boot die Vorzüge seiner Bauart. Es lag sicher in den steilsten und unangenehmsten Wogen. Allerdings war der Stauraum sehr klein, so daß Inge und Heio das schwere Gepäck Jans in ihren Einem verpacken mußten. Dafür wurde aber beim Fahren abgewechselt.
Sonst waren die beiden gar nicht so begierig gewesen, in dem Kajak zu sitzen. Als sie jetzt aber das leuchtende Gesicht Jans sahen und spürten, wie er leicht und sicher durch die Dünung glitt, beneideten sie ihn.
"Auf Wiedersehn am Strande von Juist!" rief er ihnen zu. "Ich kann mit diesem Boot nicht so langsam fahren wie ihr." Und er fuhr ihnen davon, obwohl sie trachteten, mit ihm Schritt zu halten.
"So ein Eskimoboot ist doch etwas Tolles!" meinte Inge. "Kein Wunder", sagte Heio, "es ist ja auch für die stürmische See gebaut, und der Eskimo jagt damit Wälrosse und Robben. Er kann sich auch, wenn er gekentert ist, wieder damit aufrichten, und sein Kapitak, sein Kajakpelz, der fest mit dem Rand der runden Sitzluke verschnürt ist, läßt keinen Tropfen Wasser in das Innere des Bootes dringen. Jan behauptet, es gäbe eine Anzahl von jungen deutschen Sportsleuten, die dieses Kunststück auch beherrschten, und er hat die Absicht, es ebenfalls zu lernen."
"Das soll dann wohl in der Brandung von Juist geschehen", erwiderte Inge, "aber wenn wir schon alle seine Sachen schleppen, werden wir uns bei diesen Fahrten hoffentlich auch beteiligen können!"
Immer näher kamen die Dünenketten der Insel. Sie hatten sich die einsamen letzten Dünen am Ostende als Zeltplatz ausgesucht. Aber die Ebbe fiel immer weiter, und überall tauchten Sandrücken aus dem Wasser. Endlich bog das Fahrwasser seitlich ab, und sie mußten nun versuchen, sich so nah wie möglich an die Ostdünen des Kalfamer, wie die Ostspitze der Insel genannt wird, heranzupirschen.
Jan sahen sie bereits nur noch als Punkt in der Feme. Er schien den Sand erreicht zu haben.
Es dauerte nicht lange, und sie saßen auf dem Trocknen. Glücklicherweise war hier fester Sandboden, der nur durch Seegangsrippeln und Millionen von Ringelchen des Sandwurms geformt war. Heio ließ Inge als Wache an den Booten, damit, wenn die Flut wiederkäme, ihnen die Fahrzeuge nicht wegtrieben, und begann, einen schweren Packen mit Zelten und Schlafsäcken nach den noch über einen Kilometer weit entfernten Dünen zu schleppen. Auf dem mitunter weich werdenden und dann wieder mit harten Rippeln bedeckten Boden war das keine Kleinigkeit.
Jan kam ihm entgegen. "Ihr hättet euch ein bißchen beeilen müssen", meinte er ironisch, "dann hättet ihr viel Schlepperei gespart!"
Heio entgegnete nur mit einem zornerfüllten Blick, aber Jan half ihm, und bald standen die Zelte in einer schönen Dünenmulde zwischen nickendem Strandhafer. Als sie wieder zurück über das Watt trabten, fanden sie Inge beim Krabbenschälen. Die Flut kam schon wieder, aber das Wasser blieb flach, und so mußten sie, als sie alle Sachen im Lager hatten, die Boote noch immer weit tragen.

spierentonne.de - über das Leben am, im und auf dem Wasser   ©Roland Stelzer  Impressum