Das Projekt | Über Werner Wrage | Das Buch | Die Fotoalben |
DAS WRACK
Inge schaute über den Strand. "Was ragt denn da hinten aus dem Sand?" fragte sie. Eine große, dunkle, zackige Masse war auf dem hellgelben Untergrund zu erkennen. "Das müssen wir untersuchen", meinte Jan, klemmte seine leere Flasche unter den Arm, und alle drei liefen auf den dunklen Gegenstand zu.
"Das muß ein Wrack sein!" rief Jan im Laufen, und bald standen sie tatsächlich vor einem mächtigen alten Schiffsrumpf, der fast völlig im Sande versunken vor ihnen lag. Er war von den Brandungswellen sehr zerstört, und nur die großen Spanten ragten noch wie das Gerippe eines Wales aus dem bleichen Sand. Sie waren mit Miesmuscheln, Seepocken und Seetang bewachsen.
Unmittelbar um das Wrack hatten die Wellen einen Kolk ausgewühlt, in dessen grünlichem Wasser schemenhaft ein großer Krebs im Schatten der Spanten verschwand. Auch Seerosen und Seeanemonen saßen dort am Holz. Die drei standen eine Weile still. Der Himmel war jetzt völlig von einer Wolkenbank überzogen, und eine bleifarbene Dämmerung lag lastend und drückend über der urweltlichen Einsamkeit. Nur das Zischen der mit der Flut höher heraufschäumenden Wellen unterbrach die Stille.
Die drei schwiegen, bis Inge leise sagte: "Was mag dieser Sand für gräßliche Dinge erlebt haben? Wie mag das Schicksal der Besatzung dieses Schiffes gewesen sein? Ich mußte schon darüber nachdenken, als ich auf der Seekarte den Vermerk "zahlreiche Wrackreste" las."
Eine große Welle fuhr heran und netzte ihre Füße mit salzigem Schaum. Einige Möven schrien klagend in der sinkenden Dämmerung. Über dem Brausen des Wassers neben ihnen hatten sie kaum bemerkt, daß der Wind wieder in Böen eingesetzt und ständig zugenommen hatte. Er kam jetzt aus einer ganz anderen Richtung, aus Südwesten. Nun hörten sie auch sein Sausen und spürten zugleich erschauernd einige Regentropfen kalt im Gesicht. Sie wandten sich um. Wie klein doch die Bake aussah!
"Wir müssen zurück", unterbrach Jan das Schweigen, und dann liefen sie quer über den Sand dem Wind entgegen. Als sie auf der hohen Fläche der Plate waren, spürten sie ihn in voller Stärke. Es herrschte dort ein derartiges Sandtreiben, daß sie kaum vorwärts kamen. In Schleiern und Fahnen wanderte der helle trockene Sand über den dunklen, feuchten Untergrund. Mitunter bildeten sich kontinuierliche, wallende, parallele Bänder. Sandkörner trafen schmerzhaft prickelnd die nackten Beine und setzten sich brennend in Augen, Nasen und Ohren fest.
In der Ferne hörten sie dumpfes Grollen. "Gewitter!" rief Inge, "das hat gerade noch gefehlt!"
Sie liefen noch schneller, aber schon flammten die ersten Blitze wie feurige Schwerter vom Himmel. Gellend krachte der Donner hinterdrein, und bald darauf prasselte der Regen herab. Nun folgte Blitz auf Blitz und ein Donner dem anderen. Die Blitze mußten in größter Nähe ins Watt fahren.
Sie hatten sich von Angst gepackt zu Boden geworfen, trotz des Regens, der sie eisig durchschauerte. Nach jedem Donnerschlag war es, als ob ein hallendes Echo über die Weite des Watts ginge. Inge glaubte, noch nie ein solches Gewitter erlebt zu haben. "Wären wir nur bei der Bake", sagte Heio, "die hat einen Blitzableiter".
Und dann sprangen sie auf und erreichten wirklich das Bakengerüst. Sie waren froh, als sie geborgen im Zufluchtsraum saßen. Sie rieben sich trocken und zogen ihren Trainingsanzug an. Inge sagte: "Jetzt kann ich doch endlich den Wert dieser Bake voll würdigen."
"Ja", meinte Jan, "solch ein Gewitter wie dieses habe ich nur im Hochgebirge erlebt. In diesen Urlandschaften toben die Unwetter mit einer Gewalt, die der Städter oder der Bewohner freundlicher Kulturlandschaften nicht kennt. Hört nur, wie die Bake erzittert von den Stößen des Windes."
Tatsächlich bebte das Gerüst derart, daß man meinen konnte, es müßte einstürzen. Es war fast völlig Nacht geworden. Beim Aufflammen der Blitze sahen sie durch das kleine Fenster auf den dunklen Sand, über den die unaufhörlich wehenden Sandschleier wie unheimliche böse Geister dahinzogen.
"Der Wind dreht weiter", sagte Heio, "er geht nach Nordwesten. Ich höre es an der Bakenwand. Es muß bald Hochwasser sein, und beim Wrack draußen steht jetzt sicherlich eine haushohe Brandung."
Während Inge den Teekocher entzündete und das Nachtmahl richtete, erzählte er von dem Grauen und dem Glück, das diese Bake gesehen hatte.
Er berichtete, daß einmal in der Nacht ein Schiff auf Scharhörnriff strandete. Als jede Rettung durch ein Bergungsschiff unmöglich geworden war, entschloß sich der Kapitän, die Boote zu Wasser zu bringen. Das erste wurde an der Bordwand von einer Woge zertrümmert, das zweite kenterte, nachdem es wenige Meter vom Schiff abgekommen war. Im dritten und letzten saßen der Kapitän, der Steuermann, einige Matrosen und ein Schiffsjunge. Eine riesige Woge riß das Boot vom Schiff weg und hinein in die Brandung.
Es glückte ihnen, durch die Hölle der Brecher hindurchzukommen. Bald rechts, bald links schossen turmhohe Gischtfontänen empor, wölbten sich grüne Rachen, die weißen Schaum ihnen ins Gesicht spieen. Es war eine eisige Januarnacht, und die Männer erstarrten fast vor Kälte.
Im bleichen Morgen, der sturmzerfetztes Gewölk tief, über sie hinwegjagend, erkennen ließ, sahen sie die Bake vor sich. Der Sand stand bei dieser Sturmflut völlig unter Wasser. Von den schäumenden Wogen gejagt, gelang es ihnen mit Mühe, die Leiter zu erreichen. Sie hoben den Schiffsjungen als den jüngsten empor, der mit letzter Energie hinaufkletterte. Als er sich hier in der Tür umdrehte, sah er sein Boot nicht mehr. Die nächsten Wellen hatten es weitergerissen, und die erschöpften Männer hatten nicht mehr die Kraft gehabt, sich auf die Bake zu retten. Das Rettungsboot war wohl im Watt gekentert. So wurde dieser Junge als einziger von der Schiffsbesatzung gerettet.
Aber es mag auch andere Ereignisse gegeben haben, wo es der ganzen Besatzung gelang, hier in den engen Raum zu kommen, und während draußen im heulenden Sturm ihr Schiff zerschlagen wurde, saßen sie hier geborgen. Der enge Raum roch nach nasser Wolle und nach den Ausdünstungen der erschöpften Männer, die eng aneinandergedrängt, halb liegend, halb hockend, in Wolldecken gehüllt, schwer atmend schliefen. Sie schliefen jenen tiefen Schlaf, der letzter körperlicher und seelischer Anspannung zu folgen pflegt.
Ein langes Schweigen folgte dieser Erzählung. Das Brausen des Windes, das Stöhnen und Ächzen des Gebälks, das auf- und abschwellende Donnern der Brandung aber redete deutlich genug. Alle drei spürten erschauernd den Geist dieser Landschaft, und Heio hatte den Mut, leise zu sagen: "Ohne diese Nacht auf der Bake wüßten wir nichts von den Kräften unserer Heimat."
In dieser Nacht schliefen sie kaum. Das große Grauen der unendlichen Leere um sie war so stark, daß sie sich auf einem Bett zusammendrängten, und nur die Nähe eines vertrauten, warmen Körpers ließ sie das Gefühl grenzenloser Einsamkeit und Verlassenheit in den wütenden Naturgewalten überwinden.
Inge zitterte. Trotzdem schien sie die stärkste. Heio meinte im Dunkeln, obgleich er das Beben ihres Körpers fühlte, ihr zartes Lächeln blühen zu sehen, wenn einer der Männer betont gleichgültig und nichtachtend ein paar Worte hinwarf, während der Sturm die Bake aus der Verankerung zu reißen drohte. Wenn ihm, wie er selbst deutlich empfand, die Angst ans Herz kroch, schien Inge das geheimnisvoll zu spüren, und er fühlte leise und zärtlich den Druck ihrer Hand.
Am Morgen war der Himmel voll von jagenden Wolken. Noch immer trieb der Sand in langen Fahnen über Scharhörn. Der Wind blies kräftig aus Nordwest, und über der weißbrüllenden Brandung stand ein bleicher Nebel von Salzstaub. Sie beschlossen, zur Düne hinüberzugehen, wo die Arbeiterwohnhütte stand.
Als das Hochwasser kam, stand die Sandbank fußhoch unter Wasser. Sie treidelten ihre Boote, die fast versandet waren, mit großer Mühe zur Düne hinüber und verstauten sie unter der Wohnbake. In ihr waren nur zwei Arbeiter, die sie äußerst erstaunt anschauten und sie einluden, bei ihnen zu bleiben.
In dem Raum befanden sich acht Betten. Er war bedeutend besser eingerichtet als die Bake, hatte ein schönes Doppelfenster, einen eisernen Ofen, der gemütliche Wärme spendete und auf dem man zugleich kochen konnte, einen hölzernen Tisch, Schemel, Bänke, Wandspinde und sogar Fenstervorhänge. An der Wand hing eine Uhr, und in der Ecke stand auf einem Bord ein großer Radioapparat. Von der Decke hing eine Petroleumlampe herunter. Die drei atmeten auf. Das düstere Grauen, das um die alte Bake gespukt hatte, war hier nicht mehr.
Als es dunkel wurde, begann ein gemütliches Treiben in dem warmen, hell erleuchteten Raum. Sie kochten und brieten, und die beiden Wattarbeiter freuten sich, daß sie Gesellschaft bekommen hatten. Sie tauten allmählich auf und erzählten von ihrer Arbeit und von ihrer liebsten Beschäftigung, dem Stranden. Jeden Morgen nach einem Sturm gingen sie an der Hochwasserkante entlang, um zu sehen, was das Meer ihnen geschenkt hatte, und stolz berichtete einer von ihnen von jenem denkwürdigen Tag, als sie ein ganzes Faß mit Jamaikarum geborgen hatten.
"Heut gehört ja alles dem Fiskus, aber wir lassen uns das Strandrecht nicht nehmen! Es ist auch eine böswillige Verleumdung, wenn man das alte Kirchengebet: "Herr, segne unseren Strand" als Bitte um einen Schiffbruch bezeichnet. Aber wenn schon ein Schiff untergehen muß, können ja auch die Güter bei uns angespült werden, nicht?" -
Es mag sein, daß man früher ein Pferd mit einer Laterne am Strand entlangführte, um in Sturmnächten fremden Schiffen dort Fahrwasser vorzutäuschen und sie zur Strandung und Ausraubung zu bringen, aber diese Sage ist nicht gewiß. Sicher ist nur, daß die Nachkommen dieser Leute - dieselben Männer, die hier saßen - jetzt bedenkenlos bereit waren, ihr Leben einzusetzen, um das anderer zu retten. Und dann klangen aus dem Radio die Stimmen einer fernen Großstadt überlaut in den kleinen Raum. Als Heio auf die Plattform hinaustrat, um noch vor dem Schlafengehen ins Wetter zu sehen, schlug die Tür hinter ihm zu, und er war plötzlich allein in der Nacht. Der Wind hatte etwas nachgelassen, aber große, dunkle Wolken jagten immer noch über den Himmel, an dem hier und da ein paar Sterne zu sehen waren. Der bleiche Sand schimmerte zu seinen Füßen. Er hörte das Brüllen der Brandung und sah mitunter weißen Gischt aus dem Dunkel leuchten. Möven schrien wie kleine Kinder fern in der Nacht.
Da ergriff ihn plötzlich das Wunder des Lebens in seiner ganzen Gewalt. Hier waren sie, fünf Menschen, winzig und verloren in der ungeheuren Leere des Raumes und wie Staubkörnchen in der unfaßlichen Weite dieser Urlandschaft und hatten in Sturm und Nacht und Tod, wenige Meter über dem rings sie umgebenden Meer, sich eine Stube gebaut mit Licht und Wärme und hatten das Wunder geschaffen, sich ein Lachen aus New York, einen Schlager aus England und ein Liebeslied aus Paris in ihre Einsamkeit zu holen. Wie warm und weich und nah hatte eben die Stimme Lucienne Boyer's geklungen: Parlez moi d'amour ...
spierentonne.de - über das Leben am, im und auf dem Wasser ©Roland Stelzer Impressum