Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

STRANDEN
Der Wind war umgesprungen. Am Südwesthimmel ballten sich dunkle Wolken, hinter denen die Sonne glühend versank. Eine schwache Brise machte sich auf, die schwül zunächst noch vom Festland kam und eine Unmenge lästiger Fliegen mitbrachte. Zu Tausenden ertranken sie im Watt und wurden mit der auflaufenden Flut an den Strand geschwemmt. Schließlich schlief der Wind ganz ein.
Die drei hatten sich wieder aufgemacht, um die aufkommende Flut an der Außenkante zu beobachten. Sie schritten längs der Brandungsbänke dahin.
Höher und höher stieg das Wasser, und zischend sandten die Brandungswellen schaumgekrönte Zungen auf den Strand, die bis an ihre Füße leckten. Allerlei sonderbare Dinge trieben da an und bildeten an der Flutgrenze einen Spülsaum.
Da waren Schalen von Herz- und Plattmuscheln, Panzer von toten Krabben und Taschenkrebsscheren. Jan fand eine bläulich-grüne Schwimmkrabbe, die in Scharen mit ihren flossenartig umgewandelten Hinterbeinen sich auf der offenen See herumtreibt und sogar auf kleine Fische Jagd macht. Heio berichtete, daß bei seiner Fischdampferfahrt ein Matrose von einer solchen Schwimmkrabbe blutig gebissen worden sei.
Inge bückte sich, hob etwas auf und sagte: "Seht mal diese zierliche Röhre aus Sand; sie schaut aus wie eine Zigarettenspitze!"
"Ja, das ist ein Gehäuse des Goldköcherwurms. Mitunter sieht man noch ein Tier in seiner Röhre, das mit seinen wie reines Gold schimmernden Borsten den Eingang verschließt. Die Röhre ist ganz genau konisch gebaut und nur eine Sandkornschicht dick."
An einer Stelle lag ein Klumpen rundlicher weißer Blasen, die Heio als Eierballen der Wellhornschnecke bezeichnete. Einige Gehäuse dieser Schnecke, die meist von der Brandung zerstört worden waren, hatte er ihnen schon vorher gezeigt.
Auch verschiedene braune und rote Tange waren hier angespült.
"Wie kommt es", fragte Jan, "daß wir hier Spuren einer Lebewelt finden, die wir im Watt nicht kennengelernt haben?"
"Weil wir uns hier an der Grenze der offenen, tiefen See befinden und die Tierwelt des freien Meeres eine völlig andere Lebensgemeinschaft darstellt als die des Wattenmeeres mit seinem Wechsel von Überflutung und Trocken fallen.
Da aber auch der Boden der Nordsee aus beweglichen Sanden oder Schlickgrund besteht, so ist seine Tierwelt mit Ausnahme einiger Austernbänke nicht allzu reich. Anders ist es mit der untermeerischen Umgebung von Helgoland, die aus Felsenklippen besteht. Auf ihnen können sich ganze Tangwälder befestigen, und in den Spalten und Klüften des Gesteins finden unzählige interessante Tiere Unterschlupf und Lebensmöglichkeit. Es war für mich ein schönes Erlebnis, dort einige Zeit in der biologischen Station arbeiten zu dürfen, um diese Welt kennenzulernen. Ich glaube, daß die meisten der großen Tange, die hier antreiben, aus diesem Gebiet stammen."
"Ja", sagte Inge und hob ein braunglänzendes lederartiges Tangbüschel auf, das wie ein Palmblatt aussah, "seht mal, hier unten hat der Tang ein Saugwurzelgeflecht, das sich an einem roten Sandstein festgesogen hat."
"Das ist noch ein Stück Helgoländer Buntsandstein! Dort der Blasentang hat wohl auf einer Austernbank gesessen, denn an seinen Haftwurzeln hängt noch eine Austernschale."
"Was ist das hier für ein weißlich-feines Geflecht auf dem Tang? Wie eine entzückende Spitze sieht es aus! Und da unten ist der ganze Tang rindenartig wie von einem Nesselgewebe überzogen", fragte Inge, und Heio erklärte ihr: "Jede Verästelung der Spitzen ist ein Tierchen und das ganze eine Polypenkolonie. Der rindenartige Überzug dagegen ist ein Moostierchenstaat. Jede Masche des Gewebes ist das Gehäuse eines winzigen Tierchens."
Jan hatte rasch eine kleine Ecke des Spülsaums gezeichnet, und die beiden anderen schauten nun in sein Skizzenbuch und freuten sich über die Muscheln, Schnecken und Tangstücke, die sich zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügten.
Aber zwischen all den Resten aus dem Tier- und Pflanzenreich lag auch manches andere. Viele große und kleine dunkle Bretter waren angetrieben. Viele Fischkisten, die von den Fangdampfern heruntergespült worden waren, lagen halbversandet oben auf dem Strand. Kindskopfgroße, dunkelgrüne Glaskugeln trudelten im Schaum der Brandung.
Einige hatten sie, mattgeschliffen vom wehenden Sand, schon vorher auf der Plate gefunden.
"Das sind Fischerkugeln, die zum Hochhalten der Netze dienen", beantwortete Heio eine Frage Inges.
Jan wies auf eine derartige Kugel, an der das Netzwerk noch zerrissen hing, und sagte: "Ich habe auf Sylt früher Dutzende solcher Fischerkugeln gesammelt, die nach Stürmen dort antrieben. Es gab welche aus hellem Glas und andere aus dunkelbraunem, blauem und tiefdunkelgrünem Glas. Es war für mich ein eigenes Vergnügen, in diese Kugeln hineinzuschauen, aus denen mir die Welt seltsam warm oder kalt verändert entgegenzublicken schien, wie einem Zauberer aus dem Kristall. Am liebsten mochte ich die warmdunkelgrünen. Sie gaben so ein geheimnisvolles schönes Licht."
Heio lachte: "Die Fischdampfermatrosen würden wohl meist über deine Gedanken sehr staunen. Für sie ist nicht viel Romantisches daran. Für sie bedeuten die losgerissenen Kugeln Beschädigung oder Verlust des Netzes, Sturmtage und harte Arbeit. Aber diese Unmenge von leeren Flaschen, die hier angetrieben sind, würden sicher bei ihnen romantische Gefühle hervorrufen. Ich wette, daß sie es den meisten von ihnen schon von weitem ansehen würden, was einmal darin war."
"Auf See ist es kalt", lachte auch Jan. "Es ist ja weltbekannt, daß alle seefahrenden Völker die innere Erwärmung durch Alkoholika sehr schätzen."
"Ja", sagte Inge, "die Holländer den Genever, die Dänen den Aalborg-Aquavit, die Schweden den Schwedenpunsch, die Schotten den Whisky."
"Inge, ich bin sprachlos. Von wannen kommt dir solche Kenntnis?" staunte Heio.
"Na, etwas muß ich doch auch studieren! Findet ihr nicht?" tat Inge scheinheilig.
"Das scheint mir doch ein sehr gefährliches Studium!" meinte Heio.
"Ach, das kommt auf den Lehrer an", sagte Jan. "Aber wir können ja mal prüfen, wie weit sie damit schon gekommen ist. Inge, meine holdeste Seejungfrau, was ist das für eine Flasche, die da mit Seemoos bedeckt in der Brandung liegt? - Aha, sie schweigt! Das edelste Getränk, alten schottischen Whisky, kennt sie nicht!" Er fischte die Flasche aus dem Schaum der heranflutenden Welle. "Das ist so recht eine Flasche für ein Buddelschipp!" sagte er. "Wißt ihr, diese wunderbaren Kunstwerke, die die alten Segelschiffsmatrosen während der langen Passatfahrten nach Übersee herstellten! Sie bastelten einen schmalen Schiffsrumpf, der durch den Hals der Flasche ging, und Masten mit Tauwerk aus feinen Fäden. Dann brachten sie grünlich-blau gefärbten Kittbrei in die liegende Flasche, formten daraus stürmische See, die sie mit dünnen Pinseln durch den Flaschenhals mit weißen Schaumkämmen bemalten. Sie brachten dann den Schiffsrumpf durch den Hals der Flasche samt den liegenden Masten, richteten im Innern durch Zug an den Fäden die Masten auf und die Rahen zurecht, stopften wieder den Korken in den Hals und versiegelten ihn. Dann war das Flaschenschiff fertig. Besonders geheimnisvoll schien es in diesen grünen alten Literflaschen auf der Kommode der Liebsten weiterzusegeln. - Ich hätte Lust, diese Flasche mitzunehmen und einmal selbst zu versuchen, mir solch Buddelschipp anzufertigen. Aber das ist natürlich nicht so einfach, wie ich es euch eben erzählt habe."

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