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AUF DER ROBBENPLATE
Früh waren alle wieder wach. Sie waren glücklich, daß die Sonne klar und leuchtend am Himmel stand. Keine Wolke trübte das schimmernde lichte Blau des Gewölbes.
Beim Morgentee legten sie ihren Tagesplan fest. Sie wollten um die Niedrigwasserzeit weit hinaus zu der Robbenplate. Sie liefen in dem warmen Licht fast nackt dahin, patschten durch feuchte Senken und schwammen durch einen tiefen, reißenden Priel. Stellenweise war der Sandboden mit Tausenden gleichmäßiger Wellenfurchen bedeckt, die so hart waren, daß die nackten Fußsohlen schmerzten. Durch die noch niedrig stehende Sonne warfen alle diese Gebilde tiefen Schatten und kamen besonders scharf und deutlich heraus; sie liefen schnurgerade und völlig parallel dahin. Kleinste Unregelmäßigkeiten im Boden verrieten sich durch einen Knick oder durch eine Verzweigung der langgestreckten Rippeln.
Inge freute sich über die gleichmäßigen schönen Formen. "Mir sind schon gestern bei der Landung im Brandungspriel diese Furchen aufgefallen, und ich dachte daran, wie doch der Rhythmus, der so beseligend in unserem menschlichen Leben wirkt, auch in der Natur Formen schafft, die uns entzücken. Wie mögen sie nur entstanden sein?"
"Wir sind hier ziemlich nah an der Brandungszone, und es ist heute so ruhig, daß keine Wellen uns stören", sagte Heio, "vielleicht kann ich euch im flachen Wasser zeigen, wie die Rippeln sich bilden."
Sie liefen zum Meer. Zwischen den flachen Brandungssandbänken standen noch wassergefüllte Senken. Bis zum Knie reichte ihnen das Naß, als sie hindurchwateten. Auch hier waren die Rippeln deutlich ausgebildet. Heio blieb stehen.
"Da! Schaut mal ins Wasser! Seht ihr, wie das Tangstückchen dort hin- und herschaukelt?"
"Ja", rief Jan, "und zwar ist der Ausschlag dieser Pendelbewegung genau so groß wie eine Rippelbreite."
"Da seht ihr's, der hin- und herpendelnde Seegang schafft diese Formen, aber nur bei einem fast ebenen Untergrund."
Als sie weiter durch den Priel wateten, sagte Inge: "Hier sind auch Rippeln, aber sie sehen völlig anders aus, wie Halbmonde oder Sicheln, und sie haben alle eine sanfte Anstiegsfläche und an der Innenkante des Bogens einen Steilabfall."
"Ja, wir sind nun im richtigen Brandungspriel", antwortete Heio, "das sind Strömungsrippeln, die durch das einseitig abfließende Wasser gebildet werden. Wo wir diese Formen auf dem Watt finden, wissen wir genau, wie die Ebbströmung dort verlief, denn der Steilhang zeigt immer in Richtung der Strömung. Bei Nebel kann diese Kenntnis einem Wattwanderer das Leben retten. Durch leichten Wind kann übrigens auch der Kamm der gleichgehängigen Seegangrippeln leewärts verlagert werden." "Mir fällt auf", sagte Inge, "daß hier so wenig von Tieren zu sehen ist. Außer ein paar Muschelschalen habe ich nichts entdeckt." "Ja, die Tierwelt dieser sandigen Watten, die hoch draußen in der Brandungszone liegen, ist bedeutend ärmer als das üppige Gewimmel in den Schlickwatten. Aber völlig tote Wüste ist auch hier nicht. Ich könnte euch allerhand Würmer, Muscheln und im Sand lebende Fische zeigen, die selbst in dieser Zone zu Hause sind.
Wenn auch die Tierwelt ärmer ist, so sind die Bodenformen dafür um so großartiger. Denkt mal an die riesigen Sandbänke, die Sicheldünen, die der Wind auf ihnen formt, die Brandungsbänke und die Brandungspriele!" "Aber Rippeln habe ich gestern auch im ganz weichen Schlick gesehen, und zwar Strömungs- und Seegangsrippeln", sagte Jan.
"Da hast du gut beobachtet! Noch vor nicht langer Zeit las ich eine Abhandlung, in der das Vorkommen von Rippeln im Schlick bestritten wurde. Du siehst, die Welt unserer Watten war noch vor kurzem unbekannter als viele Stellen der Wüsten Asiens und Afrikas."
"So machen wir ja eine richtige Forschungsexpedition!" meinte Inge. "Das tun wir auch", sagte Heio. "Aber seht mal diese großartige und wilde Prielmündung vor uns! So was gibt es auch nur hier draußen!"
Vor ihnen brach in einem Bogen ein breiter Priel durch das hohe Sandwatt. Sie stiegen zu ihm hinunter. Mit Staunen sahen sie meterhohe parallele Sandbänke an seinem Ufer. "Die sehen ja wie riesige Strömungsrippeln aus", meinte Jan.
""Man hat sie auch Riesenrippeln genannt", erklärte Heio, "ich habe sie als "Strombänke" bezeichnet, weil sie sich immer an Stellen mit starker Strömung finden. Auch ihr Steilhang weist immer in Richtung der Strömung, die sie formte. Hier war es der Ebbstrom. Früher glaubte ich, das sei immer so. Ich habe mich aber überzeugen können, daß es sehr häufig .Flutstrombänke' gibt. Dann nimmt die Ebbe wohl einen anderen Verlauf und ist nicht so mächtig wie der Flutstrom, so daß die Formen der Flut nicht verwischt werden können.
Da, wo die großen Wattströme ins Meer münden, tauchen bei tiefster Ebbe Außensände und Sandbänke auf, die noch vor dem eigentlichen Wattrande liegen und die oft ganz aus solchen nebeneinanderliegenden, mitunter 200 Meter langen Strombänken bestehen. Ich habe das besonders bei Trischen kennengelernt."
"Als wir gestern im Faltboot an der kleinen Wattinsel vorbeikamen, habe ich auch schon diese Strombänke gesehen", behauptete Inge.
"Ja, das war solch Außensand."
Sie waren mittlerweile an das Ufer des Wattstroms gekommen. Inge lief voraus und wollte auf eine der Strombänke hinauslaufen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus und sank bis über die Knie in dem Sand ein.
"Vorsicht! Das ist Triebsand!" schrie Heio. Sie faßten sich bei den Händen, und es gelang ihnen, Inge herauszuziehen.
"Mitunter sind die Strombänke ganz fest, so daß die Wattfischer diese Wellensände fürchten, wenn bei Ebbe ihre Boote darauf trockenfallen. Die könnten dann durchbrechen. Aber zuweilen gibt es da diesen scheußlichen Triebsand."
"Was war das nur?" fragte Inge. "Ist Schlamm darunter?"
"Nein, eine merkwürdige Wasserbewegung hält den Sand gleichsam schwebend in lockerster Lagerung; deshalb ist der Ausdruck ,Schwimmsand' vielleicht bezeichnender." "Das Watt wird mir wirklich unheimlich", flüsterte Inge, "schau doch nur diese mächtigen Kolke!"
"Hier scheinen sich Strombänke gekreuzt zu haben", meinte Jan. "Es sind richtige Badewannen."
Er ließ sich in eins dieser Löcher hinab, und das Wasser reichte ihm bis zur Brust. Meist konnten sie auf den sanften Hängen der Strombänke gut gehen, und nur der Steilhang wies Triebsand auf.
Eine ganze Weile freuten sie sich an der Mannigfaltigkeit und Großartigkeit dieser Sandformen. Jenseits des tiefen Wattstroms mußte die Robbenplate liegen. Da er nicht allzu breit war, schwammen sie durch das warme trübe Wasser. Als sie drüben ankamen, liefen sie den Sand empor, der hell vor ihnen anstieg. Heio war vorausgelaufen. Plötzlich blieb er stehen und machte den beiden anderen ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.
"Seehunde!" flüsterte er ihnen zu, als sie nähergekommen waren. Sie konnten jetzt gerade über die hohe Sandbank hinwegschauen. Da, wo sie zum Meer ablief, lag in nicht allzu großer Entfernung eine ganze Herde von Seehunden. Sie zählten 21 Tiere, die sich dort sonnten. "Also trägt die Robbenplate ihren Namen mit Recht", flüsterte Heio.
"Ja", entgegnete Inge leise, "und du hast Wort gehalten."
Sie beobachteten die Tiere, die sich wohlig auf dem Sande wälzten. Immer wieder hob eins von ihnen sichernd den Kopf oder richtete sich auf den Vorderflossen empor. Es schienen Jungtiere dabei zu sein. Im Glas sahen sie deutlich das silbergraue Fell mit den dunklen Tupfen. Von Zeit zu Zeit wälzte sich einer auf die Seite, so daß das weiße Bauchfell aufleuchtete.
"Ob man sich ihnen nicht nähern kann?" meinte Inge. "Wir können es ja versuchen", sagte Jan.
Sie krochen über den sonnenheißen feuchten Sand näher und näher heran. Aber bald wurden die Tiere unruhig. Es war den Lauschenden, als hörten sie einen bellenden Laut. Mit unglaublich schnellen Bewegungen, die man den plumpen Körpern gar nicht zugetraut hätte, wälzten sich die "Hunde" zum Wasser. Die Bewegung schien dabei wellenförmig von vorn nach hinten durch den Körper zu laufen. Einer nach dem ändern verschwand in der Flut, die hoch aufspritzte.
Da sprangen die drei auf und liefen rasch zum Strand, aber als sie herankamen, waren alle Tiere verschwunden. "Werft euch auf den Sand!" schrie Heio.
Da lagen sie nun alle drei nebeneinander in der Sonne. Es dauerte nicht lange, so erschien vor ihnen auf der blinkenden Wasserfläche der runde Kopf eines Seehundes. Bald darauf tauchten noch mehrere auf, die neugierig herüberstarrten. Heio versuchte, den beiden ändern zu zeigen, wie man durch Nachahmung der Bewegung des Seehundes die Tiere auf den Strand locken kann, ein altes Mittel der Seehundjäger. Aber es gelang ihnen nicht, die Seehunde zu täuschen.
So machten sie sich auf den Heimweg. Als sie wieder an den großen Priel kamen, war die Flut eingetreten. Sie wurden beim Schwimmen stark abgetrieben. Fast völlig erschöpft erreichten sie das jenseitige Ufer. Die Strombänke waren dort bereits unter Wasser. Sie spürten sie aber unter ihren Füßen, als sie an Land stiegen, und fühlten dabei, wie ihnen der Sand unter den Füßen weggerissen wurde. Alle paar Schritte stolperten sie, weil sie in die tiefen Rinnen zwischen den Bänken traten.
Sie waren froh, als sie den festen und trockenen Sand wieder unter den Füßen hatten, und liefen rasch auf den dunklen Punkt der fernen Bake zu, der sich über der hellen Bank abzeichnete. Aber sie mußten noch mehrere Priele durchqueren, die stark angeschwollen und erstaunlich breit geworden waren. Hochatmend standen sie endlich auf dem trockenen, flutfreien Sand Scharhörns. Sie waren still, blaß und abgespannt. Sie hatten nicht erwartet, daß die Flut hier draußen so stark einsetzte.
Sie empfanden die dunkle Enge des Bakenraumes beruhigend nach der wilden, unbegrenzten, gnadenlosen Weite da draußen.
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