Werner Wrage - "Faltbootfahrten im Wattenmeer - Erlebtes Watt"

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Erlebtes Watt - Faltbootfahrten im Wattenmeer

SCHARHÖRN
Das Wasser schlug graugrün an die Vorlandkante. In einem geschützten Winkel brachten sie ihre Boote zu Wasser, stiegen ein und fuhren mit langausholenden Paddelschlägen hinaus in die Nordsee, Scharhörn entgegen. Mächtig packte sie das ebbende Wasser, und rasch entfernten sie sich von Neuwerk.
Wellauf, wellab ging es. Vor ihnen tanzte in der Ferne eine Spierentonne auf der Flut. Als sie näher kamen, meinte Jan eine Aufschrift auf ihr zu erkennen. Es dauerte gar nicht lange, bis sie sie erreicht hatten. In riesigen Lettern stand "Hundebalje" daran. In dem starken Ebbstrom schwoite die Tonne gurgelnd und schäumend hin und her und hätte fast mit der starken Pendelbewegung das Boot Inges erwischt. Dicht hinter dem Heck schlug der Riesenleib vorüber. Heio stand das Herz still, aber schon schoß auch er an der Tonne vorbei.
Rasch blieb sie hinter ihnen zurück. Die drei Boote hielten sich zusammen. Jan sah sich nach der Tonne um, die nun schon klein, aber immer noch mit mächtigem Ausschlag hin- und herpendelnd, hinter ihnen lag.
"Donnerwetter, haben wir eine Fahrt!" sagte er.
"Das meiste davon ist der Ebbstrom. Wenn wir hier gegen die Flut ankeuchen müßten, möchte ich mich nicht sehen", erwiderte Heio.
"Warum hieß die Tonne eigentlich Hundebalje?" fragte Inge.
"Balje ist ein großer Priel, und Hunde sind natürlich Seehunde!"
"Wo sind denn die? Ich möchte gerne mal welche sehen!"
"Warte nur, du wirst schon welche zu sehen bekommen, wenn du die nötige Geduld hast!"
"Versprich mir nur nicht zu viel!"
"Ach, er kann ja immer sagen, daß du nicht die nötige Geduld gehabt hast!"
Die Sandbank Scharhörn war nahe. Der Wind blies ganz schwach aus Nordost, und es schien ihnen, als ob die Brandung nicht allzu hoch sei. "Wollen wir es wagen, außen rum bis in die Nähe der Bake zu gelangen?" fragte Jan. "Wenn wir von der Innenseite landen, müssen wir einen scheußlich langen Weg mit den Booten und den Sachen über den flachen trockenen Sand bis zu der Bake zurücklegen."
"Das ist aber immer noch besser als versaufen. Aber wir können es ja trotzdem mal versuchen. Wenn hier vorne vor der Bank die Brandung zu ertragen ist, wird sie es auch bei der Bake sein, besonders bei dieser Ostwindwetterlage."
Sie waren nun schon ganz nahe vor dem Sand und hörten das Geräusch der Wellen, die zischend auf den Strand liefen und mit leisem sirrendem Geräusch sich wieder zurückzogen.
"Das ist der Sand im Sog der Welle!" meinte Jan.
Über dem Brandungssaum lag der weite Sand blendend hell in der Sonne. Tausende von schneeweiß gebleichten Klaffmuschelschalen leuchteten herüber. Dahinter hatte der Wind eine kleine Düne aufgeweht. Dunkle Reisigzäune waren vom Menschen dem Westwind in den Weg gebaut, um ihn zu bremsen und zur Ablagerung des stäubenden Sandes zu zwingen. Einige Büschel graugrünen Strandhafers nickten, und darüber stand auf mächtigen Pfählen eine Hütte, die mit Stahldrähten verankert war.
"Wer wohnt in diesem Pfahlbau mitten im Meer?" fragte Inge. "Da wohnen während des Sommers einige Arbeiter, die Reisigzäune ziehen und Strandhafer pflanzen. Sie wollen hier kein fruchtbares Schlickland neu gewinnen, aber eine Insel soll aus der Sandbank werden. Sie versuchen, hier eine Düne zu schaffen, die allen Sturmfluten trotzt. Aber es ist hier genau wie auf Trischen, ja, noch schlechter. Dort hat wenigstens die Düne eine Zeitlang bestanden und sich dahinter Grünland bilden können. Jetzt aber ist sie wieder so durch die Sturmfluten und die Wanderung der Priele gefährdet worden, daß der Bestand der Insel nicht sicher erscheint. Hier auf Scharhörn hat immer wieder eine besonders heftige Flut die beginnende Dünenbildung zerstört, und es erscheint mir zweifelhaft, ob der Mensch mit seinen Versuchen Glück hat."*)

*) Inzwischen ist die Düne von Trischen in zwei Teile zerrissen, das gesamte Grünland versandet und der Koog und der Deich völlig zerstört. Die Nordsee hat wieder über Menschenwerk gesiegt. Die Düne von Scharhörn ist jetzt Vogelschutzgebiet.

Während dieser Worte Heios waren sie schon außen um die Sandbank herumgefahren. Auf und ab stiegen die drei Boote in den Wellen. Die Strömung hatte nachgelassen, und der Ostwind ließ die See fast glatt erscheinen. Nur eine weiche rundgebuckelte Dünung rollte gleichmäßig aus dem Meer heran als eine schwache Erinnerung an die vergangene Sturmperiode. Das Wasser war hier draußen bedeutend klarer und von einer grünlichen Färbung. In das leise Rauschen der schwachen Brandung vom Strand, das als einziges Geräusch die Stille des sanften Auf- und Niederschwebens unterbrach, klang ein Prusten und Plätschern.
"Delphine!" schrie Inge.
Nicht weit von den Booten wurde ein dunkler glänzender Rücken sichtbar, der sich über die helle spiegelnde Fläche hochwarf. Eine dunkle Finne erschien. Dann ein schäumender Wasserstrudel und alles war verschwunden!
Aber gleich darauf wiederholte sich das Schauspiel. Da und dort tauchten große Tierleiber aus dem Wasser. Man hörte, wie sie vor dem Auftauchen die Luft ausbliesen.
Plötzlich rauschte es unmittelbar neben den Booten, und ein mannsgroßer Körper schnellte sich ganz aus der Flut, um dann in einem Bogen ins Wasser zurückzusinken.
"Rasch mehr zum Strand!" rief Heio, "das sind Tümmler, keine Delphine. Aber wenn sie unsere Boote umwerfen, kann es brenzlich werden. - Es sind richtige Wale - also keine Fische, sondern fischähnliche Säugetiere. - Vor Trischen in der Mündung des Flackstroms hab ich auch schon welche gesehen!" Sie versuchten, näher zum Strand zu paddeln. Aber als sie ein paar Paddelschläge gemacht hatten, waren die Tiere schon weiter entfernt, und sie sahen sie nur noch weit voraus sich aus dem Wasser heben.
"Donnerwetter, schwimmen die aber schnell", meinte Jan. "Warum springen sie nur so?"
" Ja, mußt sie mal fragen', hätte ein Kehdinger Bauer gesagt, bei dem ich lange zu Gast war. So sagte er, wenn er nicht antworten wollte. Irgend jemand hat mal behauptet, die Tümmler springen, wenn sie von Feinden verfolgt würden. Aber hier ist das bestimmt nicht der Fall. Ich glaube wirklich, daß es ganz einfach Lebensfreude ist und daß sie wirklich spielen wollen. Mag auch sein, daß einer der kleinen Herde, der so hoch sprang, von unserm Faltboot erschreckt wurde."
"Warum sollten nicht alle lebenden Geschöpfe die volle Freude des gesunden frischen atmenden Lebens kennen?" fragte Inge. "Der Anblick solcher Wesen erfreut auch uns und schafft eine liebende Mitfreude und ein Miterleben, das glücklich macht."
"Nun, in den kommenden Ferientagen kannst du ja ihre Lebensweise nachahmen und dich draußen vor der Brandung schwimmenderweise herumtreiben. Vorausgesetzt, daß das Wetter so bleibt!"
Sie waren weit an dem Sand vorübergefahren und sahen nun die Bake deutlicher über der hellen Fläche. Vor ihnen tauchte wieder ein neuer Sand aus den ebbenden Wassern. Sie waren jetzt schon fast an der vorderen Seite Scharhörns, die der Wesermündung zugekehrt ist.
"Ich glaube", sagte Jan, "wenn wir uns nicht jetzt zur Landung entschließen, wird der Weg zur Bake immer länger. Wir sind ihr jetzt am nächsten." "Ja, das kann stimmen", antwortete Heio, "also landen wir!"
Langsam fuhren sie dem Brandungsgürtel näher. Plötzlich bekamen die Wellen schiebende Gewalt. Jedesmal, wenn sie auf dem Kamm der Welle saßen, wurden sie mit einem Ruck weiter zum Strand geschleudert.
"Paßt auf, daß die Wellen euch nicht quer werfen, dann kentert ihr todsicher!"
Die Warnung war nicht nötig. Sie saßen angespannt und klemmten sich mit Körper und Knieen in der Sitzluke fest.
Jetzt donnerte neben Jan der erste Brecher. Die schäumenden Wassermassen faßten ihn und schleuderten ihn vorwärts. Inge hatte Pech - der Sog der zurückziehenden Wasser faßte sie, und trotz allen Paddelns geriet sie in die grüne Höhlung der sich emporsteilenden Welle. Brausend brach sie über ihr zusammen. Sie schüttelte sich das Wasser aus dem Gesicht, als es ihr gelungen war, durch Paddeldruck das Kentern zu vermeiden. Dann riß sie das Boot vorwärts. Gleich darauf fühlte sie mit dem Paddel Grund. Sie war auf einer Brandungssandbank. Die nächste Welle hob sie darüber hinweg, und nun fand sie sich mit Jan über dem flachen Wasser des dahinterliegenden Brandungsprieles und sah dicht vor sich den Sand in großen trockenen Wellen aufsteigen.
"Das scheinen auch solche Brandungsbänke zu sein wie die, über die wir eben rübergeworfen wurden", sagte Jan. "Sie sind im Laufe der Ebbe nur trockengefallen. Es sind wohl zwei oder drei parallele Wellen."
"Ja, das mag schon sein. Aber wo ist Heio?" antwortete Inge. Jan sah sich um. Am Ende des Priels stand Heio im flachen Wasser und treidelte sein Boot hinter sich her. Erleichtert atmete Inge auf. Als sie beisammen waren, lachte er und erklärte den ändern, daß er von draußen die Brandung studiert hätte, um eine Stelle zu finden, an der er, ohne naß zu werden, den Strand erreichen könnte. "Ihr seht, das ist mir geglückt."
"Ja, du Scheusal", schrie Inge erbost, "und nun schau mich mal an! Kannst du uns deine Weisheit nicht mitteilen? Wenn wir nun ertrunken wären?" Heio guckte sie erschrocken an. "Ehe ich überhaupt was sagen konnte, wart ihr ja schon in der Brandung. Und so schlimm schien es mir auch nicht, daß ihr dadurch in Lebensgefahr kommen konntet. Ich sah, daß der Sand dort hinten nach Süden umbog und die Wellen da keine Schaumkämme hatten. So bin ich über eine flache Stelle ganz gemütlich hier in den Priel gekommen."
Sie stiegen nun aus den Booten, wateten noch ein Stück und begannen dann, ihre Sachen nach der Bake zu schleppen, die groß und dunkel vor ihnen aufragte. Eine Treppe aus Holz, eher eine steile Leiter zu nennen, führte zu einer hoch oben in das Balkengefüge gebauten dunklen Bretterbude, an der man sogar ein Fenster erkennen konnte. Es war der Zufluchtsraum, der für Schiffbrüchige errichtet war. Einige Betten mit Strohsäcken standen übereinander. Ein kleiner Tisch, Hocker, eine Bank und ein großes Faß mit Süßwasser stellten die weitere Ausrüstung dar. Sie fanden noch einige verlötete Dosen mit Schiffszwieback, Seile, eine Rolle und eine bunte Flagge, die als Notsignal gehißt werden konnte. Auch einige Wolldecken lagen bereit.*)

*) Es ist selbstverständlich, daß diese Gegenstände, die nur für Schiffbrüchige in höchster Lebensgefahr bestimmt sind, nicht angerührt werden dürfen. Man darf die Baken überhaupt nur mit Erlaubnis des Wasserbauamtes betreten.

Über dem Bretterhäuschen stand das mächtige Lattengerüst der Bake aus schwarz geteertem Holz. Die Scharhörnbake hat das Bild eines auf der Spitze stehenden Quadrates und bietet durch eine eigentümliche Anordnung der Latten von jeder Seite das gleiche Bild.
Von Holland bis zur dänischen Küste stehen viele solche Baken auf vorgeschobenen Sänden und auf einzelnen exponierten Küstenpunkten. Nicht eine gleicht der ändern. Durch einfachste Mittel läßt sich eine Änderung der geometrischen Zeichen erreichen. Bald sind es einfache oder doppelte Vierecke, die entweder auf der Spitze oder auf der Fläche stehen, bald sind es Kreise oder Halbkreise, Kegel und andere Formen. Blickt man von See her zum Land, so sieht man bei der flachen Wattenküste oft nicht eher etwas von dem Ufer, bis das Schiff schon in Strandungsgefahr gerät. Kann nun der Seemann über der gleichmäßigen Fläche die Zeichen dieser Baken aufragen sehen, so zeigt ihm die Form schon von weitem, wo er sich befindet.
Die Ostbake von Neuwerk z. B. bietet das Bild von zwei übereinanderstehenden Kreisen, der obere halb so groß wie der untere. Die Kugelbake von Cuxhaven verrät durch ihren Namen schon ihre Form. Die Nordbake von Neuwerk zeigt ein Rechteck. Ebenso wie diese Baken war auch die Scharhörnbake auf einem mächtigen Sockel gebaut, damit Sturm und Sturmflut sie nicht in dem weichen Boden umreißen konnten. Die Formgebung geschah durch Latten, die man so befestigt hatte, daß zwischen ihnen der Sturmwind hindurchpfeifen konnte. Sonst wäre der Luftwiderstand so groß, daß die Bake trotz Sockel und Verankerung umgeweht werden könnte.
Aber die Baken hier draußen auf den gefährlichen Sänden waren viel größer als die näher an der Küste stehenden. Über 20 Meter hoch ragte die Scharhörnbake vor den dreien auf, als sie wieder unten standen und staunend emporblickten. Sie gingen aufs neue zum Strand hinüber, um die restlichen Sachen zu holen. Es war ein schwieriger Transport durch den losen Sand, und am schwersten waren die Boote. Sie vertäuten sie unter dem Balkengerüst.
Am Abend blickten sie hoch oben von der Bake über den weiten Sand, auf dem der Wind neben kleinen Rippeln fußhohe Sicheldünen geformt hatte, die sich im schrägfallenden Licht scharf und körperlich hervorhoben.
Jan liebte diese Zeit des Spätnachmittags, in der alle Dinge so warme und leuchtende Farben bekommen. Er nannte sie "die plastische Stunde".
Durch eine dunkle feuchte Senke getrennt, lag in der Feme die kleine Düne, über der sich der Pfahlbau des Arbeiterwohnhauses erhob, verloren und winzig in der ungeheuren Weite des Raumes. Dahinter glänzte der Spiegel des Meeres. Viele Rauchfahnen und Schiffe zeigten sich am Horizont und verrieten die Nähe der belebten Elbmündung. Aber rings war die große Sandfläche von einer urweltlichen Unberührtheit und Einsamkeit. Nach Osten senkte sich die hohe, von der Brandung aufgeschaufelte Sandbank zum niedrigeren, dunkleren Watt, über dem man in der Feme Neuwerk erkennen konnte.
Die Sonne versank als glühende rote Scheibe im Meer. Als die Röte des Himmels verloschen war, wurde es rasch kühl, und die drei kletterten in den Zufluchtsraum. Sie entzündeten ihre Zeltlampe und kochten sich ihre Abendmahlzeit. Nach dem sonnigen Tag waren sie müde, und ihre Gesichter brannten vor Wind, Salzwasser und Licht. Aber die Einsamkeit dieser Urlandschaft und die Bedeutung des Raumes riefen eine seltsame Stimmung in ihnen wach. Draußen in der Dunkelheit war das gedämpfte Brausen der Brandung.
Die drei krochen in ihre Schlafsäcke und löschten die Lampe. Heio konnte lange nicht einschlafen. Er lauschte auf die Atemzüge der ändern und auf das Sausen des Windes da draußen. Er meinte auch, das feine Geräusch des Sandes zu vernehmen, der unaufhörlich, vom Winde getrieben, über die weite Fläche unter ihnen wanderte. Endlich schlief auch er ein.

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