Das Projekt | Über Werner Wrage | Das Buch | Die Fotoalben |
IN DER BRANDUNG
In den Morgenstunden, sobald die Sonne warm zu scheinen begann, gingen die drei zum Strand. Sie schwammen zum Tagesbeginn, wenn Flut war, hinaus, tauchten durch die Brecher und ließen sich dann wieder an den Strand treiben. Zuweilen konnten sie draußen auf der Brandungsbank festen Fuß fassen und spielten dort im Schaum der heranrauschenden Wellen. Sie ließen sich von ihnen den Rücken rot massieren. Oft, wenn sie sich unter die grüngläserne Höhlung einer sich emporwölbenden Welle stellten, wurden sie von den zusammenbrechenden Wassermassen umgeworfen und auf den Strand geschleudert.
Einmal, als Inge nicht aufgepaßt hatte, packte sie unversehens ein Brecher, drückte sie unter Wasser, daß sie fast die Besinnung verlor. Es brauste und sang ihr in den Ohren. Sie wollte nach oben, versuchte zu schwimmen, Grund zu fassen, sich aufzurichten. Umsonst! Der Atem drohte ihr auszugehen. Plötzlich spürte sie etwas Festes mit den Händen, wo sie es am wenigsten erwartet hatte, wurde fast zu gleicher Zeit an einem Fuß ergriffen, fühlte einen Körper neben sich und einen Arm um ihren Leib. Dann wurde sie emporgerissen und hing in den Armen Heios. Sie klammerte sich an ihn, ihr schwindelte, und das Wasser lief ihr aus Mund und Nase. Aber zugleich spürte sie das Glück, geborgen zu sein.
Das war einmal gewesen. Ein anderes Mal waren sie vom Eintritt der Ebbe überrascht worden, und als sie durch den tiefen Brandungspriel zurückschwimmen wollten, zog Heio die starke Ebbströmung nach außen. Rasend wurde er am Strand entlanggetrieben. Er strengte alle Kräfte an; denn er wußte zu gut, daß fast alle Unglücksfälle beim Baden in der Nordsee durch diese Unterströmung bei Ebbe hervorgerufen werden. Dieses Wissen verdoppelte seine Kräfte.
Aber er fühlte, wie er erlahmte. Er schrie um Hilfe. Doch in dem Brausen der Brandung war sein Rufen nicht zu vernehmen. Nun trieb er schon nicht mehr seitwärts, sondern hinaus in die Brecher. Im letzten Augenblick packte ihn eine Welle und warf ihn aus dem Bereich der Strömung. Total erschöpft erreichte er den Strand.
Als er mit rasenden Kopfschmerzen und wankenden Knien zu den anderen trat, erschraken sie, wie blaß er aussah. Seit dem Tage hatte er sich geschworen, nie wieder bei Ebbe zu baden.
Sie hatten auch andere Tage kennengelernt. Heiß brannte die Sonne vom Himmel, ein sanfter Ostwind wehte. Seidig wellte das Meer heran, und am Strand lagen Tausende und aber Tausende von den zierlichen zerbrechlichen Schalen der Herzigel. Diese taubeneigroße Seeigelart lebt im Sande der Nordsee und wird zuweilen ohne die Stacheln angespült, so daß die weißleuchtenden Schalen zart schimmernd am Strand liegenbleiben.
Dann und wann fanden sie auch zwischen diesen zweiseitig-symmetrischen Seeigelpanzern die spannenlangen Rückenschulpen der Sepia, eines Tintenfisches, der sich gelegentlich in die Nordsee verirrt und dort meist abstirbt, so daß man in einem Jahr seine Schalen zu Hunderten am Strand findet und in einem anderen gar nichts davon entdecken kann.
Wenn sie bei diesem Ostwindwetter badeten, konnten sie draußen vielerlei Tiere im klaren Wasser beobachten. Zuweilen schwebten große blaue und rosa Quallen durch die Flut. So unappetitlich ihre schleimigen Körper auf dem Sande erschienen, wenn sie vergehend, halbvertrocknet und sandverweht dort fern von der Flut verfielen, wo sie die Ebbe zurückgelassen hatte, so herrlich sahen diese Wesen in ihrem Elemente aus. Wie aus farbigem Glase geformte Wunderglocken schwebten sie über der kristallenen Tiefe. Rhythmisch atmend zogen sie den Rand ihrer Glocke zusammen und stießen sich so nach rückwärts durch das Wasser.
Wie zauberhaft sah die rötliche Ohrenqualle aus! Nicht minder schön war die blaue Nesselqualle, die meterlange Fangfäden hinter sich herzog. Aber sie hüteten sich, ihnen nahezukommen, seit Jan einmal mit den Fäden in Berührung gekommen war. Das Tier hatte sich an seinen nackten Oberschenkeln festgeheftet, und ein schauderhaftes Brennen hatte sich bald darauf eingestellt und tagelang angehalten.
Heio erzählte und beschwor, daß er an der norwegischen Küste in einem Fjord einmal mehrere Paddelschläge an den Fangfäden einer riesigen Qualle entlanggefahren war. Das Tier hatte einen Schirmdurchmesser von über einem Meter gehabt, und die nachschleppenden Fangfäden mußten mindestens sieben Meter lang gewesen sein. Inge hörte gern zu, wenn Heio von seinen Fahrten berichtete und davon, wie er seltsame Seetiere von den Felsen gesammelt hatte, wie an den senkrecht ins Meer abstürzenden Wänden violette und dunkelrote Seeigel gesessen hatten. Sie wollte auch alles wissen, was sich über die Tierwelt der Nordsee und der Watten nur erfahren ließ.
So war sie glücklich, als sie eines Tages in den auflaufenden Wellen einen großen lebenden Seestern fand. Sie staunte, als sie ihn umdrehte, über die vielen hundert Füße, die wie kleine Würmchen auf der Unterseite der Arme durcheinanderwimmelten.
Heio zeigte ihr inmitten der Arme auf der Unterseite die Mundöffnung und den halb ausgestülpten Magen und erklärte ihr, daß das Tier ein großer Muschelräuber sei, der sich so lange über eine Muschel lege, bis der Schließmuskel dieses Tieres erschlafft, die Schalen klaffen und er dann seinen Magen in ihr Inneres stülpen kann. Er verdaue sie also gleichsam außerhalb seines Körpers.
"Scheußlich!" meinte Jan, "das ist ja so, als ob ich meinen Magen in eine Suppenschüssel stülpen könnte und ihren Inhalt so außerhalb meines Ichs verdauen könnte."
Alle lachten. Heio drehte das Tier um. In seiner rötlichen kalkigen Haut zeigte er ihnen eine kleine Kalkplatte und lächelte geheimnisvoll: "Die Stachelhäuter, zu denen unser Seestern rechnet, sind die abenteuerlichsten Tiere, die es gibt. Sie sind die einzigen Lebewesen, die sich hydraulisch fortbewegen können. Durch diese kleine Platte filtrieren sie Seewasser, pumpen es in ihre Arme und von da in ihre wimmelnden Füßchen, die dadurch weit ausgestreckt werden. Dann saugen die sich mit kleinen Saugscheiben irgendwo fest und ziehen mit ihrer Muskelkraft den Körper nach. Darauf lösen sie sich wieder, werden aufs neue hydraulisch ausgestreckt und so fort!"
"Phantastisch!" rief Inge, "wenn du es nicht so ernsthaft sagtest, würde ich glauben, du machtest einen dummen Scherz."
Heio blieb ernst.
"Die Natur macht niemals Scherze; aber sie ist oft abenteuerlicher, seltsamer und unwahrscheinlicher als der tollste Roman."
Noch eins hatten die drei am Strande beobachtet, was ihnen für das Verständnis des Watts und der Küste von größtem Nutzen war. Sie sahen immer wieder - und hatten es zuweilen am eigenen Körper verspürt - wie die Wellen bei den vorherrschenden Westwinden sich zwar zu den Tiefenlinien am Ufer parallel einstellten, aber an der Windseite zuerst zum Brechen kamen. Dadurch wurden alle angetriebenen Gegenstände in einem Bogen auf den Strand geworfen und auch schräg in der gleichen Richtung wieder zurückgerissen. Vor allem geschah das aber auch mit dem Sand. Er wurde seitwärts heraufgespült und vom Sog wieder heruntergezogen. Die nächste Welle spülte ihn ein Stück weiter nach Osten empor und wieder herab.
Jan hatte das in seiner ruhigen Art eine Zeitlang mit angesehen. "Du, Heio," sagte er plötzlich. "Bei diesem dauernden Westwind, der hier in unseren Breiten herrscht, muß ja ein ununterbrochener Strom von Sand an unserer Küste entlanglaufen."
"Stimmt, Jan! Diese Sandwanderung von West nach Ost hat auch eine besondere Folge. Es ist dir ja neulich schon aufgefallen, als wir die Seekarte betrachteten, daß die Badeorte auf den Ostfriesischen Inseln meistens an der Westseite liegen und mit starken Uferschutzbauten der Brandung trotzen. Umgekehrt sahen wir an den Ostecken der Inseln, wie hier am Kalfamer, riesige Sandplaten angeschwemmt, auf denen sogar Dünenneubildung stattfindet, während im Westen die Dünen abgebrochen werden."
"Dann wandern ja die ganzen Inseln von West nach Ost, Heio!?"
"Ja, das tun sie auch, Jan. Und die großen Wattströme, die Baljen und die Seegatte/ müssen hier draußen auch mitwandern, bis dann plötzlich ihre Mündungen um- und zurückspringen. Aus alten Karten können wir diese Wanderungen sowohl bei den ostfriesischen als auch bei den westfriesischen holländischen Inseln deutlich erkennen." Da mischte sich Inge ins Gespräch. "Bei unsern Faltbootfahrten in den Watten fanden wir doch am Ufer großer Wattströme oft Sandrücken, die über das dahinterliegende schlickige Watt wegwanderten, und man konnte dann oft die dunklen zusammengepreßten und verfestigten Schlickschichten außen an dem weißen Sand wieder zum Vorschein kommen sehen. Ist das hier so ähnlich?"
"Ja, Inge", erwiderte Heio, "auch hier wandern die Inseln zuweilen über das Watt, wenn auch nicht so auffällig wie bei der Insel Trischen oder bei dem südlichen Dünenflügel Sylts, der Halbinsel Hörnum. Bei beiden fand ich in der Brandungszone mächtige Schichten solchen "fossilen" Schlicks, wie ich ihn mal genannt habe, wenn ich auch heute den Ausdruck nicht mehr richtig finde."
"Warum nicht, Heio?" sagte Inge. "Ich finde, man kann sich gut das Richtige darunter vorstellen!"
"Ja, du vielleicht; aber es könnte ein Geologe dadurch ein falsches Bild bekommen. Man muß den Schlick eben als verfestigt bezeichnen und damit sich genügen lassen." "Aber warum sind diese Schlickschichten vor Trischen und Sylt so viel stärker zu finden?" fragte Jan.
"Weil hier in Ostfriesland die Küste westöstlich verläuft, also parallel der herrschenden Windrichtung. Nördlich der Elbmündung aber läuft die Küste nordsüdlich. Der Wind kann ganz anders und viel stärker anpacken, weil er senkrecht auftrifft."
So entschleierte sich ihnen das Bild der Landschaft immer mehr, und sie begriffen sie immer tiefer in ihren Zusammenhängen. Sie sahen, daß das, was sie gleichsam so nebenbei bei ihren Fahrten beobachtet hatten, zu einem wirklichen Verstehen dieser fremden Welt führte und dazu unerläßlich war.
Hier draußen in der Brandung hatten sie in den letzten Tagen sich auch ein anderes Spiel ausgesonnen. Sie hatten den Eskimokajak hinübergetragen und versuchten, damit durch die Brandung zu fahren, wenn die See nicht zu grob war. Hier bewies der Kajak seine wunderbare Bauart. So rank und unsicher er in ruhigem Wasser war, hier sprang er die anrollenden Brecher an, durchbohrte und überkletterte sie, daß es eine Lust war. Alle drei zankten sich oft darum, wer damit fahren dürfe.
Immer kühner wurden sie. Sie wendeten draußen und jagten wieder zum Strand, hoch auf dem Rücken der brausenden Wasserberge reitend. Jan wurde tollkühn und warf sich oft seitwärts in die zusammenstürzenden Wogen. Keiner von ihnen hätte je geglaubt, daß das ohne Kentern möglich sei, aber ihm gelang es. War man aber nur einen Augenblick unaufmerksam, so kenterte man schon. Da sie sich noch nicht wieder aufrichten konnten und dazu in der Brandung auch meist keine Gelegenheit war, so hieß es dann, unter Wasser auszusteigen.
Sonst aber war es herrlich, von weißem Gischt umsprüht, pfeilschnell auf der stürzenden Brandungswelle zum Strand zu reiten.
Einmal gingen einige Badegäste, die sich doch bis in diese Einsamkeit verirrt hatten, am Strand. Plötzlich erschien Jan draußen im Kajak auf dem Kamm einer mächtigen Woge. Den Fremden war der Schreck deutlich anzumerken. Sie starrten entsetzt auf das Meer. Die Dame stieß einen Schrei aus und hielt die Hand vor den Mund.
Hohl wölbte sich die Welle empor und brach brausend zusammen. Hoch auf spritzte der Gischt, und der Kajak schien darin zu verschwinden, aber im nächsten Augenblick sauste er mit den heranschießenden Wassermassen auf den Strand bis fast vor die Füße der Damen und Herren. Jan stieg lächelnd aus, nahm sein Boot auf die Schulter und trug es vor den Sprachlosen zu den Dünen empor.
Die drei merkten, daß es meist darauf ankam, im Augenblick des Zusammenbrechens der Welle nicht vor dem Wellenkamm, sondern kurz dahinter zu sein. Nach einiger Zeit hatten sie auch schon solche Kenntnis der Brandung, daß sie sich darauf einstellen konnten, zumal das Boot sehr wendig war und jedem Paddeldruck gehorchte. Es ließ sich fast auf der Stelle um 90 Grad herumwerfen.
spierentonne.de - über das Leben am, im und auf dem Wasser ©Roland Stelzer Impressum